Das damals geplante Buchprojekt hatte schon einen Waschzettel. Und eine ISBN. Der Titel – der auch der Titel der C4F-Kolumne war – entstand nach dem Erscheinen von „Ganz oder gar nicht – Meine Geschichte“. Hagen Bossdorf versuchte sich 2004 an einer Jan-Ullrich-Biografie… Das Pseudonym ist selbsterklärend.
Das geplante Inhaltsverzeichnis des ersten Entwurfs wäre das hier gewesen:
- Das Ende
- Wie alles anfing
- Mein erstes Rennrad
- Uni-Radsport
- Der Höllenritt vom Montgenèvre
- Eddy, Kandel und die Kälte
- Die ‚fantastischen Vier‘
- Cyclassics
- Rosenwinkel
- Radkurier
- Malle mit Markus
- Pleiten am Helenesee
- Die spinnen, die Engländer
- Hamburg – Berlin
- Freier Fall
- Oderbruch
- Kirsipuu
- Zwei Mann auf einem Rad
Vieles habe ich – inklusive ein paar Fotos – noch finden können. Und ich habe es ergänzt durch weitere Texte, die Achim auf C4F geschrieben hat.
Wozu das alles? (Einleitung für die C4F-Kolumne)
Geständnisse (zweiter Teil der C4F-Kolumne)
My own private Oslo (fünfter Teil der C4F-Kolumne)
Pleiten, Pech & Pannen (neunter Teil der C4F-Kolumne)
Wer etwas beizusteuern hat, ist herzlich eingeladen. Möglicherweise gibt es auch noch Texte, die er im Forum von Rennradnews veröffentlicht hat?
Update 19.05.2021: … und jetzt habe ich sogar noch die „Tandem-Trilogie“ gefunden – und unter „Zwei Mann auf einem Rad“ verlinkt.
Update 08.06.2021: … und noch eine – vermutlich allerdings die letzte – Ergänzung: „Wie alles anfing“ fand sich noch in den (Un-)Tiefen meines Mailaccounts.
Update 08.06.2023: … und auf C4F noch zwei Teile der Kolumne sichergestellt (My own private Oslo und Pleiten, Pech & Pannen – Links siehe weiter oben). Und ein paar Fotos habe ich auch noch gefunden und eingefügt.
Das Ende
Im Frühjahr 2007 fährt ein Mann auf einem Rad durch die Stadt. Das Rad ist ein altes Mountainbike, das durch Entfernen des kleinen Kettenblattes, Montage einer Rennrad-Ritzelkassette und schmaler glatter Reifen zum Stadtflitzer umgebaut wurde. Es ist über zehn Jahre alt, trotzdem sieht man ihm nicht unbedingt an, dass es in dieser Zeit schon weit über 100 000 Kilometer zurückgelegt hat. Harte Kilometer im Kurierdienst bei Wind und Wetter und zu allen Jahreszeiten.
Auch der Mann ist alt, und im Gegensatz zu seinem Fahrzeug macht er einen etwas mitgenommenen Eindruck. Aufgrund wochenlanger Bewegungsarmut bei gleichzeitigem gesteigertem Alkoholkonsum wirkt der Körper etwas aufgeschwemmt – ein Effekt, der durch die Psychopharmaka, die er seit einiger Zeit einnimmt, noch verstärkt wurde.
Was man ihm nicht unbedingt ansieht ist, dass seine Augen nicht mehr viel taugen. Grüner und grauer Star, schwieriger Fall. Dazu eine Existenz im intellektuellen Lumpenprekariat ohne Krankenversicherung. Ohne Hoffnung auf Heilung war er in immer tiefere Tiefen der Depression eingetaucht, nachdem er seiner grossen Leidenschaft hatte entsagen müssen: dem schnellen Fahren auf zwei Rädern.
Nach wochenlangem Abtauchen hatten Freunde und Verwandte wieder versucht, ihn aufs Gleis zu stellen. Eine Krankenversicherung besorgt, zum Arzt geschleppt. Die von ihm verordneten Antidepressiva taten allmählich ihre Wirkung. Nicht nur die Körperfülle erhöhte sich, auch eine gewisse Antriebskraft kehrte zurück. Und die führte ihn nun Richtung Psycho-Institut, damit in seinem Oberstübchen mal ein wenig aufgeräumt werden sollte.
Der Mann ist Jan Brainweak, und da er ein wenig getrödelt hat drängt die Zeit, weshalb er schneller fährt, als es sein schwindendes Augenlicht eigentlich zulässt. Zu allem Überfluss bremst ihn noch eine Frau vor ihm auf dem schmalen Radweg aus, die noch langsamer dahinrollt als er. Bei erstbester Gelegenheit schert Jan deshalb aus, um zu überholen. Die weiße Linie, die quer zur Fahrlinie neben dem Radweg verläuft und die er für einen harmlosen Bordstein hält , entpuppt sich jedoch als veritables kleines Mäuerchen, gegen das nun das Vorderrad knallt. Pfeifend entweicht die Luft aus dem Reifen, der sich auf der nun nicht mehr perfekt zentrierten Felge befindet. Das Rad hat äusserlich eindeutig mehr gelitten als Jan, der sich mit ein paar harmlosen Hautabschürfungen auf dem Asphalt wiederfindet.
Innerlich sieht es allerdings anders aus. ‚Dies ist nun also das endgültige Aus. Mein Leben und meine Radlerkarriere am Boden zerstört.’ So geht es Jan durch den Kopf, und während er so daliegt und auf das Ende wartet, zieht in Sekundenbruchteilen sein Leben an ihm vorbei.
Wie alles anfing
Schon oft habe ich mich gefragt, woher diese Leidenschaft für das Radfahren bei mir eigentlich kommt. Ist es ein Virus, mit dem ich irgendwann infiziert wurde? Ist es das Ergebnis rationaler Überlegungen, dass die Welt eine bessere wäre, wenn jeder Mensch sich im Wesentlichen per muskelgetriebenem Zweirad fortbewegen würde? Oder ist es gar genetisch bedingt, wurde es mir quasi in die Wiege gelegt?
Für ersteres, den Virus, spräche, dass sich die Sache bei mir immer mehr ausgebreitet hat. Praktisch wie eine fortschreitende Krankheit. Wer jemals den Film „Männer auf Rädern“ gesehen hat, der weiß, was ich meine. Es fängt ganz harmlos an (in dem Falle mit dem Verlust der Fahrerlaubnis und dem zwangsweisen Umstieg aufs Rad) und führt über sportlicheres Fahren und teurere Räder bis zu exzessivem Training, Teilnahme an Rennen und Marathons und der Vernachlässigung extra-cyclistischer Sozialkontakte und Partnerschaften.
Möglich wäre natürlich auch, dass mir schon frühzeitig die ökologische Bedeutung des Fahrrades bewusst war. Schließlich habe ich schon in jungen Jahren (wirklich in sehr jungen Jahren – also noch bevor die Pubertät richtig losging) „Die Grenzen des Wachstums“ gelesen, was mich nachhaltig geprägt hat. Aber sehr wahrscheinlich ist das nicht. Denn meine Begeisterung für Fahrräder entstand eindeutig noch früher.
Ich weiß nicht mehr genau, in welchem Lebensjahr ich das Fahren ohne Stützräder gelernt habe. Vermutlich nicht früher und nicht später als andere Kinder auch. Und zwar mit dem roten Rädchen, auf dem es schon meine ältere Schwester gelernt hatte. Und meine jüngeren Geschwister anschließend ebenso. Mit diesem düste ich noch ein Weilchen herum und handelte mir so manch blutende Wunde ein, ehe es mir zu klein wurde. Daraufhin bekam ich eines Ostern ein dunkelblaues Staiger geschenkt – mit ungefähr sechs Jahren das letzte Fahrrad, das ich geschenkt bekam. Das nächstgrößere Exemplar kaufte ich dann schon von meinem ersten selbstgesparten Geld.
Den Preis von 116 Mark weiß ich heute noch. Und wie stolz ich damit unsere Straße auf- und abgerast bin. Als Krönung des Ganzen hatte ich noch ein Werbemützchen der Chemiefirma „Merck“ auf dem Kopf. Es sah, trotz Plastikschild, fast so aus wie die echten Rennfahrermützen, und der Unterschied zwischen „Merck“ und „Merckx“ war absolut marginal. Ich fühlte mich jedenfalls wie Eddy persönlich, wenn ich einen Sprint gegen imaginäre Gegner überlegen gewann.
Von Eddy wusste ich sogar, wie er in Farbe aussah. Einen Fernseher hatten wir damals zwar noch nicht, und einen farbigen schon gar nicht. Aber mein Vater brachte mir von seinen freitagabendlichen Sportstunden (beziehungsweise deren Nachbearbeitung in der Vereinsgaststätte, die sich zum Leidwesen meiner Mutter schon mal bis in die frühen Morgenstunden hinziehen konnte) immer abgelaufene Exemplare der „Sportillustrierte“ mit. Und spätestens als ich darin einen opulent bebilderten Bericht über die „Tour der Leiden“ gelesen hatte war es wohl endgültig um mich geschehen.
Fortan hörten meine Legosteine auf Namen wie Merckx, Altig, Peffgen, Ocana, Guimard und (jawohl!) Godefroot. Mit ihnen spielte ich alle Tour-Etappen nach. Die flachen auf dem Rasen, und für die Bergetappen ging es, wiederum zum Unwillen meiner Mutter, den Steingarten hoch bis zum Ziel auf der Terrasse. Der Zuschauerandrang war erheblich geringer, als in der Realität – außer ein paar verwunderten Eidechsen schenkte dem seltsamen Treiben niemand Beachtung. (Gibt es überhaupt noch Eidechsen? Ich habe seit Jahrzehnten keine mehr gesehen.) Und entgegen der Wirklichkeit, wo Eddy seine Gegner fest im Griff hatte, war er bei der „Tour de Jan“ meist chancenlos.
Also ist es mir vermutlich doch in die Wiege gelegt worden, bzw. muss genetisch bedingt sein. Und falls dem so ist, dann habe ich diese Anlagen mit ziemlicher Sicherheit von meiner Mutter erhalten. (Quasi wie die Intelligenz, die auf männliche Nachkommen ebenfalls nur von der Mutter weitergegeben werden kann.) Denn meinen Vater habe ich, so sehr ich auch mein Gedächtnis strapaziere, im ganzen Leben kein einziges Mal auf einem Fahrrad erlebt. Seine bevorzugten Sportarten waren (außer Fußball) Boxen, Ringen und Turnen – mithin Disziplinen, die bei mir bis heute ein gewisses Ekelgefühl hervorrufen, die ich weder aktiv betreibe noch länger als zwei Sekunden im Fernsehen betrachten kann.
Bei Boxen und Ringen ist es wahrscheinlich mein Ekel vor Gewalttätigkeiten. Beim Turnen hingegen unangenehme Erinnerungen an die eigene Schulzeit unter paramilitärischen Drill-Instruktoren. Selbst habe ich einen gebrochenen Arm nach einem Pferdsprung zu bieten. Live miterleben durfte ich noch zwei Beinbrüche innerhalb einer Minute – unglaublich eigentlich, dass der Verursacher solch traumatischer Erlebnisse nicht umgehend aus dem Verkehr gezogen wurde.
Von A nach B bewegte er sich vorzugsweise mithilfe benzingetriebener Verbrennungsmotoren, oder, auf kürzeren Strecken, auf seinen beiden Plattfüßen. Beides suche ich nach Möglichkeit zu vermeiden. Es hilft wohl alles nichts – ich bin für ein Leben auf zwei Rädern geboren, und ich habe das von meiner Mutter.
Meine Mutter ist als Bauerstochter auf dem Dorf groß geworden. Zwischen den beiden Weltkriegen war dort das Fahrrad das einzige Fortbewegungsmittel für Kinder und Jugendliche, die noch nicht mit dem Lenken von Pferdefuhrwerken betraut wurden. Gegen Ende des Krieges hatte sich meine Mutter, um nicht für die Arbeit in einer Munitionsfabrik herangezogen zu werden, freiwillig als Helferin beim Roten Kreuz gemeldet. Ihr Einsatzort in einem Lazarett war 70 Kilometer von zuhause entfernt – für die damaligen Straßenverhältnisse und mit einem schweren Drahtesel ohne Gangschaltung eine gewaltige Entfernung für ein junges Mädchen, die sie aber ohne große Mühe bewältigte. Auch als sie zu Ostern 1945 Heimaturlaub bekam fuhr sie, allen Warnungen vor dem Beschuss durch Tiefflieger zum Trotz, mit dem Rad nach Hause. Und da sie ihren Kolleginnen und Vorgesetzten in die Hand versprochen hatte, nach den Feiertagen wieder zurückzukehren, musste sie die Gefahren noch ein zweites Mal in kurzer Zeit auf sich nehmen. Vergeblich versuchte meine Großmutter, sie mit Verweis auf die näher rückende Front zurückzuhalten. Was man versprochen hat, das muss man halten. Ein Grundsatz, den sie an ihre Kinder weitergegeben hat.
Gut bekommen ist ihr das in dem Falle aber nicht. Kaum dass sie wieder im Lazarett war erkrankte sie an Scharlach und verbrachte das Kriegsende im Delirium auf der Isolierstation. Glücklicherweise waren ihre Kolleginnen auf Zack und versteckten das Rad meiner Mutter auf dem Dachboden, als in den letzten Kriegstagen noch Wehrmachtsangehörige alle Transportmittel requirierten, worunter neben Mopeds und Fahrrädern tatsächlich auch Skier fielen. So konnte meine Mutter nach ihrer Genesung den Heimweg auf ihrem geliebten Rad antreten. Und kam auch damit zuhause an, ohne den amerikanischen Militär-Patrouillen gegenüber ihren Ausweis als „Rotkreuz-Schwester im Einsatz“ vorzeigen zu müssen.
Nach Kriegsende begann sie dann eine Ausbildung zur Textilfachverkäuferin in der nahegelegenen Stadt. Die einfache Wegstrecke betrug sieben Kilometer, was auf den ersten Blick nicht sonderlich dramatisch und relativ leicht zu bewältigen klingt. Wenn man die Strecke allerdings täglich zu bewältigen hat, morgens in aller Frühe und oft noch in der Dunkelheit, und abends nach einem anstrengenden Arbeitstag desgleichen, sommers wie winters und bei jedem Wetter, dann ist das schon eine beachtliche Leistung, die mir heute noch Respekt abnötigt. Und irgendwie bin ich auch stolz darauf, in dieser Tradition zu stehen und sie gewissermaßen fortzusetzen.
Allerdings habe ich von meiner Mutter auch eine gewisse Halsstarrigkeit geerbt. Und dass ich nicht gerne auf die Ratschläge anderer Leute höre. Und dass man lästige Verkehrsvorschriften nicht immer allzu eng auslegen sollte.
Ein paar kleine Beispiele: diese sieben Kilometer führen durch sanft hügelige Landschaft, die man heutzutage mit dem Rennrad zwar auf dem großen Blatt absolviert. Mit einem schweren Hollandrad sind die Hügel aber doch etwas mühselig zu erklimmen, weshalb man möglichst alles auszuschalten versucht, was die Sache noch anstrengender machen könnte. Beispielsweise den Dynamo, der für schummeriges Licht sorgt, das man allerdings kaum braucht, wenn man jeden Meter der Strecke in- und auswendig kennt. Und schnellere Fahrzeuge, die einen gefährden könnten, gab es auch so gut wie keine. Deshalb sparte sich meine Mutter den unnötigen zusätzlichen Widerstand und fuhr regelmäßig lichtlos nach Hause. Dies missfiel allerdings dem Dorfpolizisten, der im nächstgelegenen Kaff direkt an der Straße wohnte. Ein paar regelmäßige strenge Ermahnungen waren die Folge, die sie allerdings ebenso regelmäßig ignorierte, wie ich heutzutage die amtlichen Hinweise auf Radwegbenutzungspflicht und das Gebot abzusteigen und zu schieben, wenn man einen Fußgängerüberweg benutzt.
Eines Abends, als er ihr wieder in der Dunkelheit aufgelauert hatte, war die Geduld des Dimpfelmosers dann aber zu Ende. Er bestrafte sie mit einem schmerzhaften Betrag (10 DM?), der für die damaligen lächerlichen Lehrlingsgehälter sehr ins Gewicht fiel. Zu allem Überfluss mahnte er bei der Gelegenheit noch seine kostenlose Kirschen-Lieferung an, die er vom Baumstück meines Großvaters regelmäßig beanspruchte. Das gefiel nun diesem wiederum ganz und gar nicht, weshalb es zu einer lautstarken Auseinandersetzung unter Männern kam, die erst unter Zuhilfenahme von hochprozentigem in der Dorfschänke beigelegt werden konnte. Anschließend war wieder alles so wie ehedem: der Vertreter der Obrigkeit bekam regelmäßig ein paar Gaben von Mutter Natur – und meine Mutter fuhr regelmäßig ohne Licht nach Hause.
Solcherart Pragmatismus kann ich heute nur begrüßen. Etwas anders sieht es damit aus, dass meine Mutter auch andere gutgemeinte (und in dem Fall auch wirklich gute) Ratschläge ignorierte. Beispielsweise den, auf vereisten Straßen nicht zu bremsen. Den gaben ihr zwei Männer aus ihrem Dorf, mit denen sie sich später regelmäßig verabredet hatte, um den Weg durch die Dunkelheit nicht ganz alleine bewältigen zu müssen. Als die Geschwindigkeit hügelabwärts allerdings zu schnell für meine etwas schreckhafte Mutter wurde zog sie dann doch an der Bremse. Das Resultat war natürlich, dass sie auf eisglatter Fahrbahn abschmierte, und einmal so heftig aufschlug, dass es ihr die Kurbel verbog. Zur Strafe durfte sie anschließend ihr Fahrrad die restliche Strecke nach Hause tragen.
Da bin ich dann doch etwas anders gestrickt. Ratschläge erfahrenerer und versierter Fahrer habe ich immer gerne angenommen, und auch bergab lasse ich es gerne richtig laufen, ohne die Bremsen übermäßig zu beanspruchen. Meine Halsstarrigkeit äußert sich eher auf anderen Gebieten, aber das gehört jetzt nicht hierher.
Also, solcher Art Gene stecken in mir und begründen wohl meine Begeisterung für die muskelgetriebene Fortbewegung auf zwei Rädern. Die Faszination für den Sport kam von der Reportage über die „Tour der Leiden“. Und beides zusammen mündete schließlich in den Kauf meines ersten Rennrads.
Geständnisse
Ich beginne am besten gleich mit einem Geständnis. Zeitlebens war ich clean – zumindest wenn ich ein Rennrad zwischen den Beinen hatte, und darum geht es hier schließlich. Alle anderen Umstände tun im Augenblick nichts zur Sache. Sollten sie für Fortgang oder Verständnis einer Geschichte von Bedeutung sein, so werde ich auf sie zurückkommen. Radsportlich betrachtet ist meine Weste so weiß, als wäre Meister Propper höchstselbst am Werk gewesen. Es gibt nur diesen einen einzigen winzigen Fleck, und den schreibe ich mir gleich zu Beginn von der Seele. Dann ist Ruhe im Karton und der geneigte Leser (so es den überhaupt geben sollte) kann sich darauf verlassen, dass alle beschriebenen „Leistungen“ ausschliesslich mit Wasser und Müsli erbracht wurden.
Es begab sich im Jahre 1997 . Es war ein gutes Jahr, nicht nur für den deutschen Radsport, sondern auch für mich persönlich. Sowohl was die Penunzen (1), als auch was die Libido (2) betrifft. Und eben auch in sportlicher Hinsicht.
Ich war ziemlich gut beieinander. Und das, obwohl es sich ergeben hatte, dass ich mit meinen damaligen Arbeitskollegen regelmäßig ein oder mehrere (meistens mehrere) Feierabendbiere während der obligatorischen Dart-Matches getrunken habe. Und ‚regelmäßig‘ heißt im Prinzip ‚täglich‘. Wie ich es anschließend immer die 92 Stufen zu meiner Behausung hoch geschafft habe weiß ich nicht mehr so genau.
Aber ich schwafele ab: Ich war also trotz Bierkonsums und bereits etwas fortgeschrittenen Alters (eines Alters, in dem die meisten Radsportler ihre Karriere bereits beendet haben) ganz gut in Form. Eigentlich war ich in bestechender, brillanter Form. Wozu drumherum schreiben: Ich war in der Form meines Lebens. Ich war einfach gigantisch gut! (3)
Und das führte indirekt zum einzigen Fleck auf meiner ansonsten blütenweißen Weste:
Ende September besagten Jahres hatte ich mal wieder am „SURM“ teilgenommen – dem „Schwarzwald-Ultra-Rad-Marathon“, der nicht nur so heißt, sondern auch ein echter Hammer ist. Auf etwa 240 Kilometern sind fast 4000 Höhenmeter zu überwinden, die Anstiege gehen bis zu 17 % steil in die Höhe. Schon mehrmals hatte ich daran teilgenommen, und mir meistens die Zähne daran ausgebissen. Konnte mich hinterher tagelang kaum bewegen, hatte streckenweise heftigste Krämpfe gehabt, war der Verzweiflung nahe gewesen und bin einmal unterwegs durchgeweicht halb erfroren von meinem „Betreuer-Team“ aufgesammelt worden.
Aber diesmal war alles anders. Ich war richtig gut. Ich fuhr die Berge so schnell hoch wie noch niemals zuvor. Ich hatte keine Schmerzen, keine Probleme, keine Sorgen. Es war ein einziger Spaß vom Start bis ins Ziel. Ich schaffte beinahe einen Schnitt von 30 km/h und kam nur kurz nach meinem damaligen Team-Kapitän (nicht ohne Grund „das Tier“ genannt) ins Ziel.
Und das war das Doofe daran: Mein Betreuer-Team, von mir eine wesentlich längere Fahrzeit und spätere Ankunft gewohnt, verlustierte sich zu diesem Zeitpunkt noch auf einer abgeschiedenen Schwarzwaldwiese. Nach einem netten Picknick und ein, zwei Bierchen dösten sie bei schönem Wetter so vor sich hin, während mir im Zielbereich in den durchgeschwitzten Radklamotten doch etwas fröstelig wurde. Minute um Minute verstrich, allmählich trudelten auch nicht ganz so fitte Gestalten ins Ziel, Teamgefährten und Gesprächspartner verabschiedeten sich nach und nach. Ich dagegen musste weiter ausharren und zitterte mittlerweile schon ein wenig, obwohl ich mir inzwischen schon das ULTRAhässliche Finisher-Polohemd übergestreift hatte.
Um es kurz zu machen: Ich hatte mir im beim Warten im Zielbereich eine schwere Erkältung eingefangen und keuchte mir die folgenden Tage fast sämtliche inneren Organe aus dem Hals – was insofern besonders tragisch war, da bereits am folgenden Wochenende „Rund um Rosenwinkel“ auf dem Programm stand. Irgendwie mein Lieblingsrennen (ich werde noch darauf zurückkommen), mit dem ich jedoch noch eine Rechnung offen hatte, und das ich mit meiner glänzenden Form eigentlich auf Sieg hätte fahren wollen.
Mit diesem Husten (4) war allerdings nicht einmal an eine bloße Teilnahme zu denken. Das medizinische Kompetenz-Team in meinem Umfeld, bestehend aus meinem Zahnarzt (seiner Vorliebe für Whiskey wegen „Doc Holiday“ genannt) und seiner krankengymnastischen Freundin, wusste jedoch Rat: Sie verschrieben mir irgendein Hammermedikament, im wesentlichen aus Codein oder Ephedrin (oder wahrscheinlich beidem) bestehend, von dem ich die restlichen drei Tage bis zum Rennen jeweils eine mehrfache Maximaldosis zu mir nahm.
Der Husten ging tatsächlich einigermaßen zurück, ich konnte am Rennen teilnehmen und mich zum Beginn des Finales sogar in der Spitzengruppe halten. Gewonnen habe ich natürlich nicht, dafür aber jetzt die zweifelhafte Ehre, vollgepumpt mit Wirkstoffen, die auf der Dopingliste stehen, an einem Radrennen teilgenommen zu haben. Ich hoffe, man geht nicht allzu hart mit mir ins Gericht.
Anmerkungen:
(1) „Geld macht nicht glücklich / es beruhigt nur die Nerven / doch man muss es schon besitzen / um’s zum Fenster rauszuwerfen“ – Rio der Große, König von Deutschland
(2) „Cupid,cupid? Stupid stupid!“ – ABC, The Lexicon of Love
(3) Relativ betrachtet natürlich. Für meine bescheidenen Verhältnisse.
(4) „Joe’s got a cough / sounds kinda rough / yeah, and the codeine to fix it“ – Rolling Stones, Torn and Frayed
Wozu das alles?
Sommer 2006. Der professionelle Radsport in seiner schwersten Krise. Auch als langjähriger (und weiß Gott nicht blauäugiger) Betrachter der Szene ist man verblüfft, mit welcher Dreistigkeit und kriminellen Energie nach den Geschehnissen von 1998 einfach weitergemacht wurde.
Aus alter Gewohnheit verfolgt man trotzdem weiterhin das Renngeschehen im TV. Leidenschaftslos und distanziert lümmelt man auf der Couch und registriert, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit der Tour de France seit ’98 weiter gestiegen ist. Schwere Bergetappen werden mittlerweile so schnell gefahren, wie vor noch nicht allzulanger Zeit die flachen Teilstücke. Angewidert fragt man sich, warum man einer Freak-Show solchen Ausmaßes seine kostbare Zeit widmet, als es einen plötzlich vom Bildschirm her anbrüllt:
„Was bist Du denn für ein Idiot?
Was bist Du für ein Penner?
Hast Du heute schon Deinen Arbeitgeber beschissen?
Hast Du noch nie Deine Frau beschissen?
Hast Du noch nie Drogen genommen?
Was bist Du denn für ein Idiot?
Schau erst mal in Deine Seele!
Bist Du sauber? Bist Du fleckenlos rein??
Dann erst richte über uns!“
Ich zucke zusammen und will schon antworten: „Von meinen Arbeitgebern wurde ich immer beschissen und von den Frauen nur ausgenutzt. Ansonsten sage ich ohne meinen Anwalt gar nichts mehr!“ Da bemerke ich, dass die Suada nicht an mich, sondern den Reporter von Spiegel-TV gerichtet ist. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Andererseits: Was bin ich denn für ein Penner? Was bin ich für ein Idiot, der sich mit Haut und Haar dem muskelgetriebenen Zweirad verschrieben hat. Der die meisten seiner Wege mit dem Rad zurücklegt und in seiner Freizeit anderen beim schnellen Radfahren zusieht. Oder sich im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten selbst daran versucht. Und das, obwohl es „noch nicht einmal etwas einbringt“, wie meine Mutter immer klagt.
Da meine Radsportkarriere in den letzten Zügen liegt, wäre es möglicherweise Zeit, Bilanz zu ziehen, Erinnerungen zu Papier zu bringen, Enthüllungen und Geständnisse zu machen. Um mich selbst zu erleichtern und frohgemut ins kühle Grab steigen – oder um ein neues Leben beginnen zu können. Zur Warnung und Mahnung für die Nachgeborenen. Und (vielleicht) zu ihrer Erbauung.
Als mögliche Titel gehen mir durch den Kopf:
BEIM ZWIEBELN DER VORHAUT – weil ich möglicherweise meine frühere Mitgliedschaft im verbrecherischen ADAC enthüllen werde – aber ich war jung und brauchte den Pannendienst wegen meiner Rostlauben
TRIUMPH DES INNEREN SCHWEINEHUNDES
TOUR DES STERBENS – wie ich zwar die Hepatitis besiegte, aber beim Radmarathon trotzdem keinen Blumentopf gewann
SEKUNDEN ZÄHLEN NICHT – Der Anstieg zum Kandel kann Stunden dauern
Ich entscheide mich dann aber doch für das unprätentiöse WEDER GANZ NOCH GAR NICHT – Bekenntnisse eines mittelmäßigen Hobbyradlers
Der Höllenritt vom Montgenèvre
Große Dinge waren geplant im Jahre des Herrn 1982. Eine kleine Reise um die Welt. Na ja, fast. Eigentlich nur eine Radtour über Alpen und Pyrenäen bis nach Barcelona – und wieder retour. Zeit war genug vorhanden (Oh, du schöne Studentenzeit!). Geld zwar schon erheblich weniger, aber was soll’s: Einen echten Naturburschen schrecken Übernachtungen unter freiem Himmel nicht, und für die Tage des Luxus und hemmungslosen Prassens gab es ja noch die Jugendherbergen (Preis pro Übernachtung in Deutschland damals DM 6,50 wenn ich mich nicht irre). Die Mitnahme eines Zeltes schied von vornherein aus. Es gab noch nicht die kompakten Leichtmodelle wie heute, und schließlich wollten en passant Galibier, Izoard und Tourmalet bezwungen werden.
Nach diversen Abenteuern, auf die ich aus Zeitmangel hier jetzt nicht näher eingehen will (nur in Stichpunkten: * in Biel in der Schweiz fing ich in einer Jugendherberge, deren Kojen – ich sage es nur ungern, aber es entspricht der Wahrheit – doch bedenklich an KZ-Lagerstätten erinnerten, nachts während eines Alptraumes an, meine Mithäftlinge – Quatsch! – meine Zimmergenossen zu verprügeln, * nach Grenoble ritten wir auf der Stadtautobahn ein, zu der die Nationalstraße plötzlich mutiert war (wir nahmen gleich die erste Ausfahrt), * in Le Chatelard wurde ich von der selbst noch sehr jugendlichen Jugendherbergsleiterin verführt, so dass mein Begleiter große Mühe hatte, mich zur Weiterreise zu überreden, * und schließlich spülte uns der Mistral oder welcher Wind auch immer das Rhônetal hinunter bis an die Cote d’Azur, was nicht der ursprünglichen Planung entsprochen hat.)
Da wir jedoch schon einmal da waren, stellten wir fest: „Hier ist es eigentlich auch ganz nett!“, und wir beschlossen, erst einmal zu bleiben. Und es wurde sogar noch netter, als wir zwei Mädels kennenlernten, die mit ihren Eltern ein Ferienhaus gemietet hatten. „Die Pyrenäen bewegen sich seit Ewigkeiten nicht vom Fleck, die können auch noch ein paar Tage auf uns warten.“
Aus den Tagen wurden letztlich insgesamt drei Wochen, die wir mit faul am Strand liegen, abends die Diskotheken unsicher machen, mit den Mädels Ausflüge unternehmen (die Ältere der beiden war schon im Besitz einer Fahrerlaubnis und konnte uns praktischerweise mit Papis Auto überall hinkutschieren), mit den Mädels noch andere Dinge unternehmen, sowie dem vergeblichen Versuch, das Windsurfen zu erlernen, verbrachten.
Irgendwann war der Familienurlaub dann vorbei, es nahte die Stunde des Abschieds. Da wir unserer Marschtabelle inzwischen gewaltig hinterherhinkten, mussten wir das weitere Programm etwas modifizieren. Der Abstecher in die Pyrenäen wurde komplett gestrichen, und stattdessen umgehend die Heimreise angetreten. Irgendwie hatten die drei müßiggängerischen Wochen unsere Unternehmungslust merklich gedämpft.
Während einer kurzen Fahrt mit dem Rad zum Strand war bei Bengt, meinem Begleiter, eine Bremse kaputtgegangen. Ich glaube, es war eine Feder gebrochen, aber an die Details kann ich mich nach all den Jahren nicht mehr genau erinnern. Jedenfalls schärfte ich ihm an unserem letzten Tag in Frejus ein, sich um Ersatzteile zu bemühen und die Reparatur in Angriff zu nehmen. Aufgrund der vorherrschenden Affenhitze hatten wir unseren Startzeitpunkt auf 18 Uhr abends gelegt und eine Nachtfahrt in die Berge geplant. Er hatte also noch den ganzen Tag Zeit, sich um sein Reisemobil zu kümmern, während ich einen letzten vergeblichen Versuch unternahm, auf einem Surfbrett das Gleichgewicht zu halten UND das Segel aus dem Wasser zu ziehen. Bengt begleitete mich bis in die Stadt und machte sich dort auf die Suche nach einem Fahrradladen.
Bei meiner Rückkehr in die Jugendherberge lungerte Bengt dort herum – seine Bremse war jedoch nach wie vor defekt. „Ich hab’s nicht hinbekommen“, erklärte er entschuldigend. Später kam ich aber dahinter, dass er es sich den Tag über noch ein letztes mal mit der Jüngeren der Schwestern gemütlich gemacht hatte. Wie auch immer – unser Start wurde nicht mehr verschoben, und außerdem hatte er ja noch eine zweite Bremse am Rad.
Nach einer bewegenden Abschiedszeremonie machten wir uns auf den Weg Richtung Grand Canyon du Verdon. Es wurde eine abenteuerliche Fahrt über Draguignan durch ein militärisches Sperrgebiet hinauf nach La Palud, wo es eine Jugendherberge gab. In der Dunkelheit zuckten Blitze am Himmel und es war Kanonendonner zu hören. ‚Hoffentlich werden wir nicht bombardiert oder von MG-Feuer erlegt!‘ waren meine Gedanken. Aber wir wurden lediglich zwischendurch von einer jugendlichen Rockerbande belästigt, ansonsten erreichten wir ungeschoren das Ziel in La Palud-sur-Verdon.
Es war immer noch mitten in der Nacht und dunkel, die einsam auf dem Berg gelegene Jugendherberge verriegelt und verrammelt. So viel Anstrengung auf einmal nicht mehr gewohnt, streckte ich mich etwas ermattet auf einer steinernen Tischtennisplatte nieder. „Penn jetzt bloß nicht ein!“ mahnte mich Bengt. „Nein, nein. Ich muss mich nur ein wenig ausstrecken“, waren meine letzten Worte, bevor mich die Müdigkeit übermannte.
Geweckt wurde ich vom Rattern der hochgezogenen Rolläden. Bewegen konnte ich mich allerdings kaum – ich war schockgefrostet und gelähmt von ein paar Stunden Schlaf in einer kalten Bergnacht. Zwar konnten wir den Herbergsleiter überreden, uns schon frühmorgens einchecken zu lassen, was normalerweise nicht üblich war, und ich freute mich auf eine heiße Dusche, die wieder etwas Leben in meinen beinahe abgestorbenen Körper bringen sollte. Als jedoch aus der Düse nur kaltes, um nicht zu sagen eiskaltes Wasser kam, ereilte mich einer der zwar sehr seltenen, dafür umso heftigeren Tobsuchtsanfälle. Unter unmenschlichem Brüllen und Fluchen riss ich den Duschknopf aus seiner Verankerung und pfefferte ihn durch die Gegend. Glücklicherweise blieb mein Vandalismus unbemerkt und –sanktioniert.
Tagsüber döste ich etwas im Schlafsack in der Sonne liegend auf einer grünen Bergwiese. Warm wurde es mir jedoch nicht mehr. Erst am nächsten Morgen fühlte ich mich wieder einigermaßen in der Lage, mich pedaltretend fortzubewegen. Es wurde nur eine kurze Etappe über Barcelonnette und den Col d’Allos nach Savines-le-Lac.
Der folgende Tag sollte einen Abstecher nach Italien bringen. Über Col d’Izoard und Briançon steuerten wir den Col de Montgenèvre an. Und kurz hinter Briançon passierte es: Der Seilzug an der einzig noch verbliebenen Bremse meines Begleiters quittierte den Dienst.
Ob es die drei Wochen in der gleißenden Mittelmeersonne waren, die uns das Hirn ausgetrocknet hatten, oder welche Gründe es auch immer gegeben haben mag: Wir kehrten nicht um, um in der Stadt eine Werkstatt aufzusuchen, sondern nahmen schweigend und dämlich vor uns hinglotzend die ersten Kehren des Montgenèvre in Angriff – bergauf braucht man schließlich keine Bremse. Irgend etwas würde sich schon ergeben.
Es ergab sich aber nichts. Auf dem Gipfel befand sich einer der typischen hässlichen französischen Retorten-Skiorte – mit zahlreichen Möglichkeiten, auch mitten im Hochsommer Skier zu kaufen oder zu mieten, jedoch natürlich vollkommen ohne Fahrrad- oder Eisenwarenladen. Nachdem wir ergebnislos das gesamte Kaff durchkämmt hatten, war guter Rat teuer. Was tun? Es fiel uns partout keine Lösung ein, und schließlich verlor mein Kompagnon die Nerven. Mit den Worten „Ich fahr da jetzt einfach runter!“ schwang er sich auf sein Bike und rollte, kaum dass ich so schnell gucken konnte, davon. Ziemlich verdattert schwang ich mich ebenfalls in den Sattel und nahm die Verfolgung auf.
Es wurde ein echter Höllenritt. Wir waren jung. Wir waren dumm. Drei Wochen lange permanente Endorphinausschüttung hatte die chemischen Reaktionen in unseren Hirnen etwas aus dem Tritt gebracht. Es war unverantwortlich. Und einer von uns beiden wäre dabei beinahe draufgegangen.
Da ich noch funktionierende Bremsen besaß, war ich etwas langsamer, und hatte von hinten den besten Blick auf das chaotische Geschehen: Mein Begleiter hing schräg auf seinem Rad und hatte das linke Bein ausgestreckt, den Fuß als Ersatz-Bremse benutzend. Die Ersatzbremse verzögerte allerdings bei weitem nicht so perfekt wie das Original, weshalb er doch auf recht ordentliche Geschwindigkeit kam. Meist ging in den Kurven jedoch alles glatt, aber bei zwei oder drei Kehren war sein Speed so hoch, dass es ihn zu weit nach außen trug. In einer Rechtskurve musste er deshalb links an den entgegenkommenden Autos vorbeifahren, um eine Kollision zu vermeiden. Es war wirklich haarsträubend.
Wie durch ein Wunder überstand er die gesamte Abfahrt ohne Crash. Zu guter letzt bretterte er noch am italienischen Grenzkontrollposten durch, der sich am Fuße der Abfahrt befand. Damals gab es tatsächlich noch Grenzen, und zwei der Kontrollettis stürzten sich gleich auf mich, als sie meiner ansichtig wurden. Der Zweite dieser kriminellen Grenzverletzer sollte ihnen nicht auch noch durch die Lappen gehen. Während sie mich noch in der Mangel hatten, kam Bengt irgendwann wieder angeschlichen und gab radebrechend den Zerknirschten. Mit Verweis auf seine komplett weggeschmirgelte Schuhsohle und die defekte Bremse versuchte er, sich für sein Verhalten zu entschuldigen.
Ich weiß nicht, ob die Grenzer überhaupt irgendetwas verstanden haben, jedenfalls müssen sie uns für vollkommen plemplem gehalten haben. Und Verrückte soll man nicht aufhalten. Ohne Konsequenzen ließen sie uns des Weges ziehen.
Im nächsten Ort war die Instandsetzung der Bremsen dann kein Problem – in Italien kennt man sich damit halt aus. Und so rollten wir flott und frohgemut Richtung Turin.
Eigentlich wollten wir vor Susa wieder links abbiegen und über Lanslebourg zurück nach Frankreich. Aber es rollte gerade so schön, und als die Abzweigung kam, taten wir beide so, als hätten wir sie nicht gesehen. Auf gleich wieder den nächsten Berg hochfahren hatten wir keinen Bock, und so erreichten wir Turin fast ohne einen einzigen Pedaltritt.
In der Metropole erlebten wir jedoch eine unangenehme Überraschung: Die dortige Jugendherberge wurde gerade vor unseren Augen von der Abrissbirne dem Erdboden gleichgemacht! Das muss ziemlich plötzlich und kurzfristig geschehen sein, denn am Zaun vor dem Grundstück hingen Hunderte von Zetteln von Leuten (Interrailern?), die sich dort verabredet hatten und nun ihren neuen Aufenthaltsort kund taten. Unsere Suche nach einem Ausweichquartier verlief ergebnislos, und da Übernachten unter freiem Himmel in einer Großstadt nicht so empfehlenswert ist, mussten wir notgedrungen wieder hinausfahren. In den Außenbezirken fanden wir einen Zeltplatz. Da aber dunkle Wolken aufgezogen waren, verbrachte ich den ganzen Abend damit, mich mit einem seltsamen weiß gekleideten Mann, der mit seinem selbstgebastelten Wohnmobil dort campierte, über völlig abstruse Dinge zu unterhalten, bis er endlich die erlösenden Worte sprach: „Wenn es zu regnen anfängt, könnt ihr zu mir reinkommen.“
Auch am nächsten Morgen hatten wir unsere Form und unsere Lust auf Bergfahren nicht wiedergefunden. Wir kehrten nicht mehr nach Frankreich zurück, sondern steuerten über Bergamo, Bozen und Innsbruck wieder heimatliche Gefilde an. In Innsbruck sahen wir „Die Klapperschlange“ im Kino und gerieten uns darüber schwer in die Haare (Ich fand ihn gut, Bengt total scheiße). Am Zirler Berg sahen wir jemanden sein Moped trotz eingekuppelten Motors und Drehen am Gasgriff berghoch schieben. Am Anstieg zum Kloster Ettal trat ich den Beweis an, dass man auch mit zehn Kilo Zusatzgepäck auf dem Rad extrem schnell einen Berg hochfahren kann, um einem drohenden Gewitterguss zu entgehen. Und in Oberammergau wunderten wir uns, dass im stockkonservativen Bayern ein Pärchen ein Zimmer für sich alleine bekam (normalerweise wurde immer streng nach Männlein und Weiblein getrennt) und lautstark seinem nächtlichen Hobby frönen durfte.
Aber die Stimmung zwischen Bengt und mir hatte sich irgendwie nicht wieder eingerenkt, und so trennten sich an einer einsamen Weggabelung im schwäbisch-fränkischen Wald unsere Wege. Seither haben wir uns nur noch dreimal gesehen, und mit dem Rennrad ist er seit jenem Sommer keinen einzigen Meter mehr gefahren. Und ich habe es bis heute nicht bis zu den Pyrenäen geschafft.
Pleiten, Pech & Pannen…
Wer ein echter Rennradler sein will, muss natürlich sein Trainingslager in der Saisonvorbereitung auf Mallorca abhalten. So waren auch meine Teamkollegen und ich schon des öfteren auf der Balearen-Insel abgestiegen, und es war meistens ein großer Spaß. Gezieltes Grundlagentraining war allerdings so gut wie unmöglich, da die einzelnen Trainingstage eher wie harte Etappen bei einer großen zweiwöchigen Rundfahrt gefahren wurden. Was doch etwas an die Substanz geht. Und apropos Substanz: Auch das zweite Trainingsziel, nämlich dem angesammelten Winterspeck Einhalt zu gebieten, wurde meist verfehlt. Fast ebenso viele Stunden wie auf dem Rad wurden nämlich im Speisesaal des Hotels verbracht, um dem abendlichen Buffet beizukommen. Oder bei Bäckern, um die Vorräte von Enseimadas und Panades zu plündern.
Man kehrte also häufig mit höherem Kampfgewicht und etwas ausgelaugt in die Heimat zurück, aber die Form war erstaunlicherweise meistens doch ganz passabel geworden. „Die muss man doch auch mal irgendwie nutzen!“ kam es Kamerad Markus eines Jahres in den Sinn. Und bei der Durchforstung des Wettkampfkalenders war ihm der Helenesee-Duathlon ins Auge gesprungen.
Viel lieber als Rad zu fahren läuft Markus nämlich durch die Gegend. Ursprünglich war er mal Karatekämpfer und hat das auch quasi semiprofessionell betrieben, indem er Selbstverteidigungskurse für Frauen gegeben hat. Aber irgendwann hat er damit aufgehört. Vielleicht weil es bei einer Abschlussveranstaltung mal Ärger gegeben hatte. Um ein realistisches Szenario darzustellen, hatte er auf dem Parkplatz eines Industriebetriebes nächtens einen Parcours aufgebaut, den die Teilnehmerinnen absolvieren mussten. Den potentiellen Räuber und / oder Vergewaltiger gab er selbst, und alles lief total realitätsnah ab. Die Frauen traten ihm volles Rohr und mit viel Geschrei gegen das Suspensorium – ganz so, wie er es sie gelehrt hatte. Leider hatte er vergessen, die wenigen Anwohner vorab zu benachrichtigen, so dass plötzlich mehrere Einsatzwagen der Polizei die Szene aufmischten.
Danach hatte er sich dem Ausdauersport zugewandt. Erst kam er aufs Rad, aber schon bald verfiel er mehr und mehr dem Laufen. Kürzllich hat er seinen dreißigsten Marathon unter drei Stunden absolviert – verteilt auf fast sämtliche Kontinente. Beispielsweise ist er den Peking-Marathon gelaufen. Während seines Aufenthalts dort wurde er von chinesischen Lauffreunden in ein typisches Restaurant ausgeführt. In das Lokal gelangte man durch einen schmalen Gang, der links und rechts von Käfigen gesäumt war. Darin warteten Nutrias auf ihr Schicksal – nämlich von einem Gast ausgesucht und anschließend vom Leben zum Tod befördert und tischfertig gemacht zu werden.
Markus ist auch ein echter Kämpfer vor dem Herrn: Beim Berlin-Marathon hat er sich einmal so ins Koma gelaufen, dass er tatsächlich im Ziel kollabiert und erst im Sanitätszelt wieder aufgewacht ist. Am Tropf hängend stammelte er nur ständig „Jungfrau! Jungfrau!“ Der Hintergrund war, dass er wenige Wochen später an einem Marathonlauf aufs Jungfrau-Joch teilnehmen wollte, was er jetzt gefährdet sah. Die Rote-Kreuz-Mitarbeiter müssen ihn jedenfalls für vollkommen durchgeknallt gehalten haben.
Zurück zum Thema: Als Radfahrer und Läufer war es natürlich nur ein kurzer Schritt zum Mehrkämpfer, und das heißt in diesem Falle zum Duathlon. Zwar hatte sich Markus auch schon als Triathlet versucht, dort gab es aber aufgrund leichter Schwimmschwächen für ihn nichts zu erben. Leichte Schwimmschwäche ist aber doch zu beschönigend ausgedrückt, merke ich gerade. Er war richtig schlecht im Schwimmen, und das wurde auch nicht viel besser, nachdem er sich beim Uni-Sport für intensives Schwimmtraining angemeldet hatte. Die Trainerin, ein Überbleibsel aus alten DDR-Kader-Zeiten gab sich anfangs zwar Mühe, ihn durch paramilitärischen Drill auf Vordermann zu bringen, musste aber doch irgendwann die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen einsehen. Nach einigen frustrierenden Erlebnissen (es wurden zum Beispiel Staffelwettbewerbe ausgetragen, wobei man mit einer Hand eine brennende Fackel über Wasser halten musste. Bei der Bildung der Mannschaften blieb Markus regelmässig als Letzter übrig, und seine Teamgefährten verdrehten nur die Augen, wenn sie ihn in der Staffel hatten, weil sie genau wussten: Sie konnten sich die Seele aus dem Leib schwimmen und würden doch nur den letzten Platz belegen.) hat er dann dem Dreikampf endgültig entsagt.
Womit wir endlich wieder beim Helenesee-Duathlon wären. Sein Werben um dortige Teilnahme hatte insofern Erfolg gehabt, als er meinen Namensvetter, den kleinen Jan, und mich überreden konnte. Das bedeutete zwar ein paar läuferische Extraschichten auf Mallorca, aber das Laufen am Strand hatte auch einen gewissen Reiz. Zumindest die drei oder vier mal, die ich mich dazu aufraffen konnte.
Der Sonntag nach unserer Rückkehr von der Insel war der große Tag, und so machte ich mich Samstagnachmittag daran, mich und mein Material vorzubereiten. Das Rad kam aus der Tasche, in der es noch von der Flugreise verpackt war, auf den Montageständer, ein bißchen gewienert, Kette geölt und alle Gänge durchgeschaltet – da macht es plötzlich ‚Ratsch!‘ – Schaltzug gerissen. Sämtliche Kisten und Schublädchen durchwühlt – kein Ersatz zu finden. Die Radläden hatten damals um diese Zeit bereits alle geschlossen, auch diverse Telefonanrufe bei Bekannten blieben ergebnislos. Was sind das alles bloß für Leute, die nicht einmal die gängisten Verschleißteile zu Hause vorrätig haben.
Nun war guter Rat teuer. Ohne Halt durch das Drahtseil zwang die Feder den vorderen Umwerfer auf das kleine Kettenblatt. Mit einer Maximalübersetzung von 39/14 oder so würde ich mich im Wettkampf wohl ziemlich blamieren. Was also tun?
Mir fiel wieder ein, dass Markus als akribischer Vorbereiter mit dem Veranstalter telefoniert und Erkundigungen über den Ablauf der Veranstaltung eingeholt hatte. Dabei hatte er unter anderem erfahren, dass der 40-Kilometer-Radkurs vollkommen flach sei. Wozu brauchte ich also einen vorderen Umwerfer? Kurzerhand wurde das Bauteil einfach abmontiert und die Kette auf das große Blatt gelegt. Nebenbei auch gleich ein paar Gramm Gewicht gespart – ich war stolz auf mich und meine Idee.
Nachdem wir am folgenden Morgen allerdings den Bahnhof von Frankfurt / Oder verlassen hatten und gemütlich Richtung Helenesee strampelten kamen mir erste Bedenken. Ein Verkehrsschild kündigte eine 8%ige Steigung an… Ansonsten war mir schon öfter mal der Verdacht gekommen, dass die Brandenburger Straßenmeistereien die „8%“-Schilder im Großeinkauf mit starkem Preisnachlass erworben und seither an jedem kleinen Hügelchen ein solches aufgestellt hatten. So ist unter anderem am Ortsausgang von Trebbin der vermutlich flachste Achtprozenter des gesamten Universums zu bewundern.
Aber hier entsprach das ausnahmsweise mal der Realität. ‚Mist!‘ dachte ich, ‚wieso ist es hier so hügelig?‘ Aber das musste ja noch nichts zu bedeuten haben, obwohl wir schon bedrohlich nahe an Start und Ziel waren.
Dort angelangt wurden wir alsbald zur Wettkampfbesprechung gebeten. „Die Radstrecke ist ein T-Kurs mit zwei Wendepunkten“, erklärte der Wettkampfleiter. „Es geht zunächst über den Berg, auf der anderen Seite wieder runter, dann kommt die erste Wende. Wieder zurück über den Berg, geradeaus zur zweiten Wende und dann zum Ziel.“ Meine Miene verfinsterte sich. Dreimal über diesen Drecksberg mit 53/17 würde mir Schnellkurbler ziemlich in die Beine fahren.
Aber nicht mehr zu ändern. Missmutig stellte ich mich zum Start auf. Zuerst waren zwei Lauf-Runden à 3,5 Kilometer am See entlang zu absolvieren, danach die 40 Kilometer mit dem Rad, und zum Abschluss noch einmal eine Runde zu Fuß. Der Startschuss knallte und alle rannten los wie die gesengten Säue. Ich musste mitrasen, ob ich wollte oder nicht. Viel schneller als im Training. Und auch viel schneller, als ich eigentlich geplant hatte.
Wider Erwarten ging es eigentlich ganz gut. Ich lag zwar ungefähr auf Höhe der ersten Läufer im hinteren Drittel des Feldes, aber mehr hatte ich für die Laufstrecke auch nicht erwartet. Auf dem Rad würde ich das Feld schon von hinten aufrollen, und außerdem lag der kleine Jan als gut trainierter Läufer noch hinter mir.
Nach dem Lauf ging es in die Wechselzone, und ich Blindfisch hatte zuerst Mühe, mein Rad zu finden. Dann war ich relativ planlos beim Umziehen, und rechts und links von mir auf dem Rad entschwindende Konkurrenten machten mich ein wenig hibbelig. ‚So ein, zwei mal den Wechsel üben wäre vielleicht nicht verkehrt gewesen‘, dachte ich mir, aber nun war es zu spät.
Irgendwann schwang ich mich dann auch in den Sattel und begab mich über einen sehr holprigen Waldweg hinaus auf die Strecke. Dankenswerterweise hatten die Organisatoren die schlimmsten Löcher und Wurzelanhebungen mit roter Leuchtfarbe markiert, so dass auch ein Sehbehinderter wie ich problemlos daran vorbeikam. Endlich auf der richtigen Straße angekommen wollte ich auf Renngeschwindigkeit beschleunigen, merkte aber sofort: Es ist nicht wie sonst auf dem Rad!
Der ungewohnt schnelle Lauf war mir doch sehr in die Beine gefahren und ich fand meinen üblichen Tret-Rhythmus nicht. Zwar konnte ich recht schnell drei oder vier andere Teilnehmer überholen, aber dann kam schon der Anstieg und die Beine wurden mir noch schwerer als zuvor.
Ächzend und schnaufend quälte ich mich im dicken Gang über die Kuppe und musste auf der anderen Seite erst einmal rollen lassen und die Beine ein wenig schütteln. Mit einem vermutlich aufmunternd gemeinten „Forza!“ zischte der kleine Jan an mir vorbei und meine Laune wurde noch schlechter. Eigentlich lasse ich mich von dem auf dem Rad nicht abhängen, aber heute war eben alles ein wenig anders.
Vor der ersten Wendemarke kamen mir die Spitzenleute schon entgegen, und ich entdeckte Markus in ziemlich aussichtsreicher Position. Wenigstens er würde wohl Spaß und ein Erfolgserlebnis haben, falls er nicht noch wegen Windschattenfahrens disqualifiziert werden würde (Er fuhr zwar nicht hinter, sondern versetzt neben seinem Konkurrenten, aber bei Seitenwind ist das ja auch viel effektiver). Ich dagegen quälte mich mehr schlecht als recht über die Runden und machte nach der Eichhörnchen-Taktik nach und nach ein paar Plätze gut. Gleich zwei Konkurrenten auf einen Streich überholte ich bei der zweiten Wendemarke – beide mit Carbon-Laufrädern ausgerüstet, deren Bremseigenschaften sie wohl nicht so recht trauten. Also schlichen sie langsam bis zur Wendemarke und eierten um die Kurve, während ich mit Volldampf auf die Pylone zuhielt, einmal beherzt an den Bremshebeln zog, das Rad zur Seite kippte und wieder Fahrt aufnahm. ‚Triathleten!‘ dachte ich. ‚Schwätzer vor dem Herrn. Wissen alles über Fettverbrennungszonen und ähnliches Zeug, verbringen noch mehr Zeit mit Trainingsplanung als mit dem schon sehr zeitintensiven Training an sich, holen alles aus ihrem Körper raus was rauszuholen ist – aber richtig radfahren können sie einfach nicht. Das steht ja wohl fest.‘
Kurz vor dem Abzweig zur Wechselzone konnte ich nach längerem Kampf meinen letzten Gegner überholen und nahm mir fest vor, den kleinen Vorsprung, den ich auf ihn herausgefahren hatte, mit letztem Einsatz auf der Laufstrecke zu verteidigen. Dermaßen (über)motiviert flitze ich den holprigen Waldweg hinab in die Wechselzone. Und während ich bei der Ausfahrt bergauf noch auf die Leuchtmarkierungen geachtet hatte waren sie mir jetzt im Eifer des Gefechts völlig entgangen. Es gab einen heftigen Schlag, als ich über eine größere Asphaltblase rumpelte, und mein Tritt ging ins Leere – Kette heruntergefallen. ‚Don’t panic, reine Routinesache!‘ Ich spielte am Schalthebel, um den Antriebsstrang wieder dorthin zu befördern, wo er hingehört, aber es tat sich nichts. Ich Depp hatte ja gar keinen Umwerfer dran.
Es half nur absteigen und die Kette von Hand wieder auflegen. Neben den schwarzen Fingern, die ich mir dafür einhandelte, überholte mich auch noch mein Hauptgegner während dieser Prozedur. Weg war er, den Kampf mit ihm konnte ich vergessen. So verlief der Rest des Wettkampfes ohne Aufregung. Vor mir war niemand zu sehen auf der Laufstrecke, und von hinten kam auch keiner mehr.
War auch ganz gut so, denn ich setzte nur noch rein mechanisch einen Fuss vor den anderen. Wäre jemand an mir vorbeigelaufen – ich hätte mein Tempo überhaupt nicht mehr variieren können. Es ging nur noch ums Ankommen.
Ich belegte irgendeinen Mittelfeldplatz, was eigentlich ganz okay war. Etwas ärgerlich, dass der kleine Jan direkt vor mir platziert war. Der hatte auf der letzten Laufrunde scheinbar noch ordentlich eingebüßt, während Markus sogar zur Siegerehrung gerufen wurde und irgendeinen Sachpreis abstaubte.
Für ihn war es im Gegensatz zu mir ein perfekter Tag. Und für mich war der Schlamassel damit noch nicht zu Ende. Nach Erwerb eines Schaltseiles und vor der Montage des Umwerfers dachte ich mir, wenn ich das Ding schon mal frei in der Hand habe, dann kann ich es auch mal gründlich reinigen und auf Hochglanz bringen. Gedacht, getan. Mittels Nitroverdünnung wurden sämtliche schwarzen Fettrückstände abgewaschen und das Meisterwerk italienischer Schmiedekunst schön poliert. Ein irgendwie erotischer Akt – allerdings mit jähem Interruptus. Urplötzlich war das Leitblech einfach abgebrochen. Hatte ich es etwa zu intensiv liebkost? Egal, es war jedenfalls ein Desaster, die ultimative Katastrophe und ein äußerst unschöner Abschluss meines ersten und bisher einzigen Duathlon-Wettkampfs.
Der alte Seemann kann nachts nicht schlafen
Von meinem früheren Teamkapitän Don Haraldo habe ich schon berichtet. Seinen Spitznamen erhielt er deshalb, weil er dem großen Spanier in Statur, Eleganz auf dem Rad und Leistungsfähigkeit ziemlich nahe kam. Wenn ich genauer darüber nachdenke, hat er sich den Namen selbst verliehen – aber egal! Er trug ihn in jedem Falle zu Recht. Schon im Uni-Radsport war er der große Abräumer bei den Ortsschild-Sprints, später kaprizierte er sich während der knallharten Mallorca-Trainingslager mehr auf die „King-of-the-Mountains“-Wertung. Dort konnte er auch 1997 noch einmal am Calobra-Pass triumphieren, als seine Form bereits auf dem absteigenden Ast war und ihn eigentlich „das Tier“ schon als Leader abgelöst hatte. Aber die Calobra war nun einmal sein Berg, da holte er, den Atem seines „Rivalen“ schon im Nacken spürend, das Letzte aus sich heraus.
Ein Jahr zuvor stand er jedoch noch voll im Saft. (Erst zum Ende jener Saison begann er, sich akribisch der Familienplanung zu widmen. Seinen im folgenden Frühjahr zur Welt kommenden Erstgeborenen beabsichtigte er ursprünglich, nach dem aktuellen Sieger von Mailand – San Remo zu benennen. Den Plan hat er aber wieder aufgegeben – obwohl der noch nicht einmal „Dschamolidin“ geheißen hat.) Und so lockte ihn auch der Ruf des ersten großen „Rennens für Profis und Jedermann“ zur Premieren-Austragung der HEW-Cyclassics nach Hamburg.
Bei mir war er damit gleich auf offene Ohren gestoßen. Ein 160-Kilometer-Rennen auf komplett abgesperrter Strecke – das hatte es bis dato nicht gegeben und das hörte sich nach reichlich Spaß an. Er hatte auch gleich die Übernachtung bei der Mutter einer Freundin klargemacht, und so begaben wir uns frohgemut in seinem Fiesta auf den Weg.
Rund um die Ausgabestelle der Startunterlagen war bereits einiges los, als wir ankamen. Jubel, Trubel, Heiterkeit. Eine Mischung aus Volksfest und Verkaufsmesse – nicht so mein Ding, und auch die „Carbo-loading“-Portion war nicht so ganz nach unseren Vorstellungen, aber wir waren ohnehin noch mit meiner Ex-Freundin zum Essen verabredet, die ich als offizielle Supporterin (heutzutage nennt man das glaube ich „chick“) in die Hansestadt bestellt hatte. Und immerhin schoss Dirk, offizieller fotografischer Abgesandter einer großen Radsport-Zeitschrift, noch ein Foto von den beiden coolsten Typen auf der Nudel-Party. (Dieses wurde allerdings nie veröffentlicht, worüber ich mich beschwerte, als ich ein Jahr später beruflich mit ihm zu tun hatte. Seine augenrollenden Aussagen über die Fotoredaktion behalte ich allerdings lieber für mich.)
Das Dinner zu dritt bei einem gediegenen Italiener verlief sehr amüsant, harmonisch und ohne Handgreiflichkeiten – also wie immer eigentlich, wenn ich meine Ex länger nicht gesehen hatte. Anschließend schlenderten wir noch einmal über das „Village du Tour“ – schließlich hatten wir noch jede Menge Gertränkegutscheine in der Tasche. Während Don Haraldo sich mit Mineralwasser begnügte, pfiff ich mir unter seinen indignierten Blicken noch die obligatorischen zwei Bierchen rein. Sein Genörgel über meine Präparation ignorierte ich einfach. Schließlich weiß ich selbst am besten, welche Vorbereitung vor großen Events für mich geeignet ist.
Wie recht ich damit hatte, sollte sich schon wenige Stunden später erweisen. Unsere Gastgeberin empfing uns überaus herzlich und hatte bereits unser Schlafgemach gerichtet. Zwei ehepaarmäßig nebeneinanderstehende Jugendbetten ihrer Kinder schienen für eine stattliche Gestalt wie Don Haraldo und eine nicht ganz so stattliche wie mich jedoch nicht ganz geeignet zu sein. Deshalb schnappte ich mir freiwillig nur ein Kopfkissen und machte mich auf der Isomatte am Boden lang, während er sich in den Betten ausbreiten konnte. Trotz der Nervosität vor dem großen Rennen sank ich schon bald in erholsamen Schlaf – bis mich Don Haraldo an den Schultern rüttelte und mir ein „Hör auf zu schnarchen!“ ins Ohr flüsterte. Aber in meine Nachtatmung lasse ich mir von niemandem reinreden. Ich drehte mich um und schlief wieder ein. Schon halb hinweggedämmert registrierte ich noch, dass mein Kapitän mit Bettdecke unter dem Arm unser Gemach verließ.
Während ich also am nächsten Morgen halbwegs frisch und ausgeruht am Frühstückstisch erschien, berichtete Don Haraldo etwas zerknittert von seinen nächtlichen Aktivitäten. Erst hatte er vor lauter Aufregung nicht einschlafen können. Als er dann angeblich kurz davor war, begann ihn meine Atemlautstärke zu stören (eigentlich schnarche ich nämlich gar nicht). Daraufhin hatte er sich auf das Sofa im Wohnzimmer verzogen, was ihn allerdings vom Regen in die Traufe brachte: Die Wohnzimmeruhr schlug zu jeder vollen Stunde. Zu guter letzt erwies sich auch noch unsere Gastgeberin als absolute Frühaufsteherin, die schon morgens um fünf lautstark in der Küche herumzuwerkeln begann – dabei im Radio das „Große Hamburger Hafenkonzert“ angestellt und diverse Lieder mitsingend. Eines davon hatte den irgendwie passenden Refrain „Der alte Seemann kann nachts nicht schlafen“.
Kein guter Start für ihn in den Tag, auf den er sich doch so gewissenhaft vorbereitet hatte. Da die Streckenlänge von 160 Kilometern etwas über der Distanz lag, auf der er seine besten Leistungen bringt, bevor er die krampfgefährdete Zone betritt, hatte er Befürchtungen, dass er unterwegs verhungern oder verdursten könnte. Deshalb hatte er zusätzlich zu den beiden Flaschenhaltern am Rahmen noch ein Gestell hinter dem Sattel montiert. Mit vier grossen Flaschen ausgerüstet, zwei davon mit Wasser gefüllt, zwei mit irgendwelchem widerlichen Power-Schleim, rollten wir zum Start in die Mönckebergstrasse.
Wir hatten uns erst einmal frech mit einem 40er-Schnitt angemeldet, weswegen auch ein Plätzchen für uns im ersten Startblock reserviert war. Ansonsten hatten wir keine rechte Vorstellung davon, was auf uns zukommen würde. Wie stark waren die anderen Teilnehmer? Sollten wir versuchen vorne mitzufahren? Gleich alles geben, oder sich die Distanz etwas einteilen? Diese Fragen gingen mir durch den Kopf während wir auf den Startschuss warteten.
Nach dem Knall waren alle vorherigen Überlegungen eh obsolet. Vom ersten Meter an begann eine gnadenlose Hatz – ungefähr das, was ich mir als Worst-case-Szenario ausgemalt hatte. Es war ein absolut chaotisches Gefahre: Viele hatten sich ihre Eintrittskarte in den vorderen Block scheinbar mit falschen Angaben ergaunert und rollten jetzt als quasi „stehende Hindernisse“ mit albernen 30 km/h über die Strecke, andere kämpften sich von hinten ohne Rücksicht auf Verluste und Mitfahrer nach vorne, schnell rissen erste Lücken, und in meinem Hirn hatte nur noch ein Gedanke Platz – treten, treten, treten….!
Mit gesenktem Kopf, die Hände den Unterlenker fest umklammernd, wirbelten meine Beine so schnell sie nur konnten. Es war ein seltsamer trance-ähnlicher Zustand. Irgendwo im Hinterstübchen meldete sich die Stimme der Vernunft: „Mein Sohn, das ist nicht sehr klug, was du da machst. Und es wird nicht gut ausgehen!“ Aber sie wurde gnadenlos niedergebrüllt: „Shut up! So eine geile Raserei erlebe ich vielleicht nur einmal im Leben. Und wenn ich kaputt gehe – scheiß‘ drauf! Irgendwie komme ich immer ins Ziel.“
So vergingen mir endlos vorkommende Minuten. Immer wenn ich mal einen kleinen Blick auf den Tacho werfen konnte, leuchtete eine 5 als erste Ziffer auf. Ich konnte es kaum glauben, aber es war tatsächlich so. Nach etwa zehn Kilometern hatten wir einen Schnitt von über 45 – eine eigentlich unvorstellbare Dimension für eine Pfeife wie mich. Es waren über 1300 Leute über die lange Strecke am Start, und ich befand mich tatsächlich in einer etwa 50 Mann starken Gruppe, die sich abgesetzt hatte. Don Haraldo war ebenfalls dabei, genau wie „das Tier“, das separat von uns angereist war. Während mein Bettgenosse und ich leise Zweifel äußerten, ob wir dieses Tempo auf Dauer würden überleben können, gab es für das Tier keine Zweifel. „Das packen wir locker!“ versuchte er uns zu motivieren.
Nachdem die Gruppe stand, wurde das Rennen etwas gleichmäßiger, und auch in mir wuchs die Zuversicht, zumindest bis zum Finale dabei bleiben zu können. Es wurde weiterhin sehr schnell gefahren, aber nicht mehr über Gebühr gerast. Verfolger waren keine in Sicht. Es hätte alles so schön werden können.
Aber das Unglück nahm seinen Lauf. Angeblich in Gestalt eines dämlichen Polizisten, der den Weg wies. Wie auch immer, ich fuhr zu weit hinten in der Gruppe, um es beurteilen zu können. Jedenfalls fuhr plötzlich ein ziviles Fahrzeug neben uns auf der eigentlich komplett abgesperrten Rennstrecke. Und dann noch eines. Und noch eines. Und plötzlich ganz viele. Kein Zweifel mehr: wir waren wohl etwas vom rechten Weg abgekommen.. Fünfzig adrenalinangereicherte Rennradler mussten ihre Fahrzeuge wenden und eine dreispurige Einbahnstraße gegen den starken Verkehr in der falschen Richtung befahren, um wieder auf die Originalstrecke zu gelangen. An der Abzweigung fielen einige unschöne Worte an einen Mann in grüner Uniform, der scheinbar als der Schuldige ausgemacht worden war. Aber wie gesagt: Ich kann es nicht beurteilen und halte mich da raus. Wir fädelten kurz hinter der Spitze des Hauptfeldes wieder ins Renngeschehen ein und kämpften uns wieder in vordere Positionen – aber die Luft war erst einmal raus.
Für Don Haraldo sollte es anschliessend noch dicker kommen. Es ging irgendwann ins Hafengebiet, die Strecke wurde pflasteriger und holpriger, Bahnschienen kreuzten den Weg. Irgendwann machte es „Schwupps!“, und die erste hinter dem Sattel deponierte Flasche löste sich aus ihrem Halter. Bei der nächsten Bahnüberquerung tat es ihr ihre Partnerin nach. Groß war Don Haraldos Gejammer: „Ohne Nachschub schaffe ich das nie bis ins Ziel!“
Nachschub gab es dann, als wir das Hamburger Stadtgebiet südwärts verlassen hatten und Richtung Harburger „Berge“ trudelten. Die Verpflegungsstelle befand sich auf dem Schwarzenberg, wie ich hinterher in der Presse lesen konnte – während des Rennens hatte ich von einem „Berg“ nichts bemerkt. Profimäßig bekamen wir Verpflegung und Getränke angereicht. Jetzt zahlte sich mein „Training“, spaßeshalber Müsliriegelverpackungen, Getränkedosen, leere Bäckertüten oder ähnliches immer während voller Fahrt zielgenau im kleinen Einfüll-Loch von an Strassenschildern oder Bushaltestellen angebrachten Papierkörben zu versenken. Ich hatte jedenfalls keine Probleme, eine Trinkflasche anzunehmen. Andere mussten doch sehr ihr Tempo drosseln oder hielten gar an. Viele legten sich scheinbar auch auf die Fresse, aber auch das erfuhr ich erst bei der Zeitungslektüre hinterher. Stürze gab es während des Rennens allerdings einige in meiner Umgebung (unter anderem einmal ein Massencrash direkt hinter mir, wodurch „das Tier“ erst einmal aus dem Rennen war) – jedoch ohne so tragischen Ausgang wie im darauffolgenden Jahr.
Nach der Verpflegung ging es in östlicher Richtung immer am Elbdeich entlang. Ein herrlicher Anblick, den man auch genießen konnte, da das Rennen inzwischen völlig eingeschlafen war. Mit rund 30 km/h ging es dahin – bei den meisten RTFs wird schneller gefahren, und beim „Training“ unseres Teams sowieso. Eine Weile fand ich das ganz nett, aber irgendwann überlegte ich mir, dass eine Selektion doch nicht ganz schlecht wäre. Ich verspürte jedenfalls wenig Lust, in einem mehrere hundert Mann starken Pulk in der Innenstadt um die Hausecken zu flitzen und ein Finale auszutragen. Zumal auch viele dabei waren, die ihrem Leistungsstand und ihrer Fähigkeit, in einer Gruppe zu fahren, nach vorne eigentlich nichts verloren hatten.
Irgend etwas musste unternommen werden – und eine innere Stimme redete mir ein, dass ich der Auserwählte sei. Wie von Geisterhand ferngesteuert ergriff ich die Initiative und verabschiedete mich nach vorne aus dem großen Feld. Natürlich rechnete ich nicht ernsthaft damit, mich dauerhaft absetzen zu können. Ein Soloritt von noch mindestens 60 Kilometern bis ins Ziel lag außerhalb jeglicher Realität. Aber ich hatte gehofft, dass ich ein paar flotte Begleiter fände, mit denen man einen flotten Zug aufbauen kann, der einen bis in Zielnähe bringt. Der einzige, der sich irgendwann zu mir gesellte war jedoch – Don Haraldo! Er lobte mich als Solo-Ausreißer in den höchsten Tönen. Allerdings vermeinte ich, doch einen etwas höhnischen Unterton in seiner Stimme bemerkt zu haben. Er stand jedenfalls nicht wirklich hinter meiner Aktion und ließ sich alsbald ins Feld zurückfallen.
Ich radelte noch eine Weile in dem Bewusstsein vorneweg, dass es eigentlich eine völlig schwachsinnige Aktion war. Aber als die Wortfetzen „An der Spitze Startnummer 415, Jan Brainweak aus Austingen!“ von einem Lautsprecherwagen an mein Ohr drangen, war das Grund genug, noch ein wenig vorneweg zu düsen. Davon könnte ich meinen Enkeln erzählen, wenn ich welche hätte.
Irgendwann war der Spaß dann aber vorbei. Ohne dass ich bewusst langsamer geworden wäre, wurde ich vom Feld geschluckt. Ich würde für diesen Effort bezahlen müssen, das war mir klar. Dass es aber so schnell gehen würde, war dann aber doch etwas überraschend.
Kaum knickte die Strecke nordwärts Richtung Bergedorf ab, blies ein spürbarer Seitenwind ins Feld, das sich augenblicklich in seine Bestandteile auflöste. „Jeder stirbt für sich allein!“ war fortan die Devise. Naja, nicht ganz allein. Es fanden sich immer Grüppchen von vier bis fünf Leuten zusammen, die dem himmlischen Gebläse zu trotzen versuchten. Ich hatte mich nach meinem Soloritt erst einmal etwas weiter hinten im Feld versteckt und war von dem plötzlichen Gemetzel ziemlich überrascht worden. Unter großer Kraftaufbietung schloss ich die Lücke zu dem Grüppchen vor mir – erst dann gewahr werdend, dass von dort wieder eine Lücke nach vorne klaffte, die irgendwie geschlossen werden musste. Noch einmal gelang das mit Unterstützung eines anderen Fahrers, dann war ich platt. Das Loch zur nächsten Gruppe würde ich nicht mehr zukriegen.
Unverhofft näherte sich allerdings von hinten ein „weißer Ritter“ – in Gestalt von Don Haraldo, der drei Leute im Schlepptau hatte. Von einem aufmunternden „Hopp!“ animiert schloss ich an und ließ mich nach vorne ziehen. Nach meinem Gefühl mussten wir schon wieder relativ weit vorne sein, als ich zu meinem Entsetzen bemerkte, dass mein Vordermann ein Loch hatte reissen lassen. Ich löste mich aus seinem Windschatten und versuchte, den anderen hinterherzustiefeln, kam allerdings keinen Zentimeter näher.
In den nächsten Minuten entspann sich ein verzweifelter Kampf: Die Gruppe um Don Haraldo fuhr immer nur etwa 50 Meter vor der Schar von zwölf bis fünfzehn Leuten, die sich um mich geschart hatten. Es war zum verzweifeln – sie waren zum Greifen nah, aber einfach nicht zu packen, zumal viele in „meiner“ Gruppe zu effektiver Tempoarbeit nicht mehr in der Lage oder nicht willens waren. Die Drückebergerei verschlechterte die Stimmung in unserer Gruppe zusehends, es kam zu ersten Verbalinjurien und später fast zu Handgreiflichkeiten. Als die meiner Einschätzung nach beiden stärksten Fahrer der Gruppe kurz hintereinander davonsprangen, verpasste ich den Anschluss. Kurz überlegte ich, ob ich den Kraftaufwand auf mich nehmen und ihnen hinterherstiefeln sollte. Aber ich fühlte mich in dem Moment nicht danach, und es war auch sehr fraglich, ob es viel einbringen würde. Wir wären dann zu dritt gewesen und hätten noch etwa 25 km bis ins Ziel einer größeren Gruppe nachsetzen müssen – das erschien mir nicht sehr erfolgversprechend.
Ich gab auf. Ich ließ mich ans Ende der Gruppe zurückfallen und schonte meine Kräfte. „Ich habe genug für euch getan, jetzt könnt ihr mich gefälligst ins Ziel chauffieren!“ waren meine Gedanken. Nur noch sporadisch beteiligte ich mich an der Tempoarbeit für den demoralisierten Haufen. Und so passierte ich relativ frisch und ausgeruht die ‚flamme rouge‘. Auf der Zielgeraden trat ich kurz an und versenkte meine Begleiter unter tosendem Applaus tausender Zuschauer locker und lässig im Sprint. Ich war sozusagen die letzten Kilometer für die Galerie gefahren – aber es hatte sich gelohnt. Fürs Podium hatte es zwar nicht gereicht, aber ein Küsschen bekam ich trotzdem – von meiner Ex, die sich den besten Platz an der Ziellinie gesichert hatte.
Mit Platz 96 hatte ich es immerhin in die Top 100 geschafft. Don Haraldo war auf Platz 80 knapp drei Minuten vor mir ins Ziel getrudelt. Er hatte am Ende „nichts mehr zuzusetzen gehabt“, wie er bemerkte, war jedoch genau wie ich recht zufrieden mit dem Erreichten. Auf den Sieger, Ex-Profi Peter Hilse, hatte ich elf Minuten eingebüßt, das lag ja noch im Rahmen.
Nachtrag
Im Jahr darauf sollte ich noch erheblich besser klassiert sein, während Don Haraldo sein Waterloo erleben würde (Streichresultat in der Mannschaftswertung – desaströses Ende einer großen Hobbyradler-Karriere). Dies wurde jedoch alles überlagert durch einen tödlichen Unglücksfall, der sich direkt neben mir ereignete. Ich habe keine schönen Erinnerungen an diesen Tag, und glaube nicht, dass ich im Rahmen dieser Kolumne noch darauf eingehen werde.
Once upon a time in the West Midlands
Es begab sich, dass es den Protagonisten dieser Geschichten eines Jahres, kurz nach der Euro-Einführung, für geraume Zeit auf die britische Insel verschlug – also quasi mitten hinein ins Mutterland des Radsports. Kleiner Scherz am Rande, aber tatsächlich sollte es so kommen, dass unser Held mehr Zeit mit Fußball-Fans verbrachte, als mit Radsportlern und Radsport-Fans. „Schuld“ daran war in erster Linie die British Airways – aber der Reihe nach.
Sein damaliger Arbeitgeber schickte ihn im Austausch nach Birmingham, auf dass er den Engländern mal beibrächte, wie man mit „German Efficiency“ einen Bürobetrieb auf Vordermann bringt. Als Nebeneffekt sollten seine Englischkenntnisse wieder etwas aufgefrischt werden. Vor allem das aktive Sprechen hatte im Lauf der Jahre etwas gelitten, und das Vokabular, das nicht regelmässig in Popsongs oder Filmen auftaucht, konnte auch umfangreicher sein.
Das „schöne“ Birmingham sollte das Ziel sein, Englands zweitgrößte Stadt, eine Industriemetropole von zweifelhaftem Ruf was beispielsweise Architektur, Kultur und Lebensqualität betrifft. Der Held ließ sich davon keineswegs abschrecken, sondern stürzte sich mit Feuereifer in die Vorbereitungen. Und die betrafen natürlich in erster Linie den Radsport.
Das Internet war damals noch eine völlig neue unbekannte Welt für ihn. Und die Tatsache, dass man einfach nur bei Gockel die Wörter Birmingham, Bicycle und Club eingeben musste und schon auf interessante Resultate stieß, verwunderte und erfreute ihn über alle Massen. Die Site eines Clubs, der der Erinnerung nach tatsächlich auch Birmingham Bicycle Club hieß, hatte es ihm besonders angetan. Sie versprach beim überfliegen interessante, schöne, schnelle Touren in topografisch abwechslungsreicher Landschaft, und die Vorfreude wurde schon riesengroß.
Etwas komisch war allerdings, dass am Ende unter den unverzichtbaren Dingen, die man auf jede Ausfahrt unbedingt mitbringen sollte, als nahezu allerwichtigstes „Sunblocker“ aufgeführt war. Das passte nicht unbedingt zu dem Bild, das man sich gemeinhin von englischem Wetter macht und verwirrte den Helden zunächst sehr. Ein etwas genauerer Blick auf die Texte brachte allerdings die Auskunft „The Club is located in Birmingham / Alabama”, und die Recherchen mussten leider wieder von vorne beginnen. Als er die Geschichte später in England zum Besten gab erntete er damit immer große Lacherfolge. Einige Leute meinten allerdings, dass die Warnungen vor der mörderischen Sonnenstrahlung durchaus auch von einem englischen Club hätte stammen können, da die Insulaner darauf in der Regel ziemlich panisch reagieren.
Die Vorfreude auf Radtouren mit Linksverkehr erhielt allerdings einen kleinen Dämpfer, als er sich mit Adam, dem Aushilfs-Englisch-Coach der Firma, unterhielt – einem gebürtigen „Brummy“. Die Frage, ob man denn in seiner Heimatstadt schön Rad fahren könne, zauberte zunächst einen ungläubigen Ausdruck in sein Gesicht. Und führte nach einer Gedankenpause nur zu dem knappen, aber eindeutigen Statement: „It’s impossible. Nobody does it.“
Wie gesagt, die Vorfreude wurde etwas gedämpft. Abhalten ließ er sich dadurch von seinem Vorhaben allerdings nicht. Das schaffte dann allerdings fast die British Airways, von der er wenige Tage vor dem Start die niederschmetternde Auskunft erhielt, dass eine Fahrradmitnahme zwischen dem Lilienthal-Flughafen und Birmingham International leider nicht möglich sei, da die dort verkehrenden Maschinen dafür zu klein wären. Als Alternative boten sie an, das Rad als Fracht zu befördern, wofür sie lediglich mehrere hundert Euro in Rechnung stellen wollten.
Damit hatte unser Held nun überhaupt nicht gerechnet. Mit seinem zweirädrigen Begleiter war er schon in einigen Ecken der Welt unterwegs gewesen, und noch nirgends hatte es Probleme mit dem Fahrradtransport durch die Lüfte gegeben, weshalb er sich auch nicht längerfristig um mögliche Alternativen gekümmert hatte. Nun war es zu spät dafür, denn das Bezahlen der Frachtkosten kam aus mehreren Gründen überhaupt nicht in Frage.
Jan beschloss, die Lösung des Problems räumlich und zeitlich zu verschieben, indem er sich erst vor Ort um einen zweirädrigen Untersatz bemühen wollte, und machte sich ans Packen. Eine diffizile logistische Angelegenheit, denn lediglich 23 Kilogramm Freigepäck gestattete die unsägliche Fluglinie. „Für jedes Kilo darüber berechnen die Heinis wahrscheinlich wieder 500 € Frachtkosten“, brummelte er missmutig vor sich hin. In dies 23 Kilo mussten dann normale Klamotten für wechselnde Jahreszeiten ebenso untergebracht werden wie Fahrrad-Bekleidung. Alles wurde bereitgelegt, nochmals überprüft, ob es auch wirklich gebraucht würde, und dann in einen Koffer und eine Reisetasche gepackt. Zur Gewichtskontrolle benutze er eine Badezimmerwaage, auf die er sich erst mit den beiden Gepäckstücken in der Hand stellte und anschliessend noch einmal ohne diese. Aus den beiden Messwerten wurde die Differenz gebildet, und die ergab niederschmetternde 28 Kilo. Wohl auf jeden Fall zuviel, um ohne Strafgebühren durchzukommen, dachte er, und machte sich ans Aussortieren.
Vierundzwanzigeinhalb ergab die zweite Berechnung, damit wollte er es riskieren. Ein wenig mit den Ladies hinterm Tresen geschäkert, dann klappt das schon, so der Plan. Aber groß war das Entsetzen, als er seine Gepäckstücke auf die Flughafen-Waage wuchtete und diese lediglich 21,5 in digitalen Ziffern anzeigte. Glatte anderthalb Kilo verschenkt! Und womöglich wichtige Sachen zuhause gelassen!
Kein guter Anfang. Und es wurde nicht besser, denn die Maschine nach Birmingham hatte eine volle Stunde Verspätung. Bei der Ankunft am Birmingham International wurden dann alle von ihren Vermietern abgeholt – alle bis auf unseren Helden. Dessen Landlady hatte offenbar bei Bekanntgabe der einstündigen Verspätung einen Nervenzusammenbruch erlitten. Mit der Info, sie müsse dringend nach Hause, um ihren Hund auszuführen, und dass sie es sich außerdem anders überlegt hätte und doch niemanden bei sich beherbergen könne, verabschiedete sie sich von der verdutzten Gruppe. Der Austausch-Beauftragte versuchte noch schnell, eine Ersatzunterkunft bei einer anderen Vermieterin zu organisieren, die ihren eigentlichen Untermieter erst drei Wochen später erwartete. Diese sagte auch zu – allerdings erst für den Folgetag, da sie das Haus vorher erst noch „hoovern“ müsse. So kam es, dass unser Held seine erste Nacht abroad im Haus der Vermieterinnen einer Kollegin verbrachte, eines dicken Lesben-Pärchens mit einem Privatzoo aus mehreren Hunden, Katzen und anderem Getier. Es gab lecker „organic“ Essen, Wein und eine Einführung in die aktuellen Fernseh-Serien, die man keinesfalls verpassen dürfe. (In diesem Fall war gerade die erste Staffel von „24“ aktuell.) Anschliessend legte er sich glücklich, zufrieden und leicht angeschickert im Zimmer des 17jährigen schwulen Sohnes einer der Frauen zur Nachtruhe nieder. ‚Alles sehr lustig hier’ waren seine letzten Gedanken vor dem Hinwegdämmern. Dass er nicht die gesamte Zeit dort wohnen konnte, sollte er später noch oft bedauern.
Aber worum ging es gleich noch mal? Ach ja, vordringlichste Aufgabe war natürlich die Requirierung eines fahrbaren Untersatzes. Und zwar sowohl für sportliche Zwecke, als auch um dem vollkommen bescheuert organisierten horriblen öffentlichen Nahverkehr zu entkommen. Dies erwies sich als leichter als gedacht. Der frühere Direktor des Colleges, auf dessen Gelände sich das Business and Community Department, die Arbeitsstätte unseres Helden, befand, war grosser Radfahr-Fan gewesen und hatte der Anstalt zum Abschied ein College-Rad gestiftet. Dieses war im Lauf der Jahre zwar von niemandem benutzt worden und wies überdeutliche Spuren mangelnder Pflege auf. Allerdings bekam der Lehrer, der offiziell für das Gefährt verantwortlich war, bei den enttäuschten Worten „rust never sleeps“ unseres Helden ein dermassen schlechtes Gewissen, dass er ihm tatsächlich sein privates Bike zur Verfügung stellte – ein ziemlich schweres Touren-Rad mit Shimano-7-Gang-Schaltung allerdings. Anyway! Von nun an sah man unseren Helden nur noch per Rad den Cannon Hill Park zu seiner Arbeitsstelle durchqueren – eine Sache von knapp zehn Minuten, die zuvor per Bus und anschliessendem Fussmarsch in der Regel eine halbe Stunde gedauert hatte, sich dank der wenig zuverlässigen Fahrpläne von Travel West Midlands auch schon mal auf 45 bis 50 Minuten auswachsen konnte. In relativ kurzer Zeit war er schon bekannt wie ein bunter Hund, denn es gab tatsächlich nur sehr wenige Alltagsradler in der Stadt. Die Familien im Araber-Viertel, das er auf dem Weg ins City-Centre durchkreuzen musste, glotzten ihn immer an wie einen Außerirdischen, und auch die Drogenhändler und sonstigen Kleinkriminellen vor einem Pub im harten Stadtteil Highgate ließen den Verrückten in Ruhe, wenn sie wieder einmal mit Schlägereien beschäftigt waren oder einander mit der Knarre in der Hand hinterher rannten.
Es gab jedenfalls viel zu sehen und zu erleben, weshalb die radsportlichen Aktivitäten vorerst in den Hintergrund gerückt waren. Auf einem „Arts Fest“war er von einigen Krautrock-Fans auf Anhieb als Deutscher identifiziert (war wohl nicht so weit her mit seinem akzentfreien Englisch) und als Gast aus dem Herkunftsland dieser seltsamen Musikrichtung gleich ehrenvoll hofiert und in den inner circle eingeführt worden. Dieser traf sich immer Freitag abends reihum bei jemand anderem. Jeder hatte eine Plastiktüte voller Schallplatten in der einen und eine Plastiktüte voller „cans“ in der anderen Hand. Abwechselnd spielten sie einander die obskursten Scheiben vor, die sie irgendwo aufgetan hatten, und gaben ihre Kommentare dazu ab. Parallel wurden die Cans in atemberaubendem Tempo geleert, bis irgendwann nach Mitternacht alle vollkommen betrunken heimwärts wankten. Beim allerersten dieser denkwürdigen Abende, der in Kings Heath stattgefunden hatte, trat unser Held gemeinsam mit Steve dem Plattenhändler den Heimweg nach Sally Oak an. Ein recht ereignisreicher Heimweg. Während Steve beim Pinkeln unterwegs mit beiden Händen an seinem besten Stück vornüber in eine Hecke kippte, wurde unser Held aus einem fahrenden Auto heraus mit einem rohen Ei beworfen. Herzlich willkommen in Birmingham! Die Scham über diesen vermeintlich ausländerfeindlichen Vorfall kannte anderntags ebenso wenig Grenzen wie devote Entschuldigungen. Dabei hatte unser Held das nächtliche Geschehen eher amüsiert und gelassen zur Kenntnis genommen.
Mit derlei bizarren Aktionen verging in der Regel die eine Hälfte des Wochenendes. Sonntags wurde er dann häufig von einigen der Krautrocker zu den Premier-League-Spielen ihres Clubs Aston Villa mitgeschleppt. Der spielte zu der Zeit zwar meistens „fucking terrible“, aber die Leidenschaft der Fans und die Atmosphäre im Stadion machten die Sache für ihn trotzdem sehenswert, zumal er seit jeher ein Freund des englischen Fussballs gewesen war. Irgendwann aber begann er dann doch, die sonntäglichen Ausritte auf dem Rennrad zu vermissen, und so machte er sich eines abends auf den Weg zum Rednal Social Club, wo der Beacon Road Cycling Club seine Treffen abhielt. Bei einigen Pints kam man sich näher, und Jan wurde für den folgenden Sonntag morgens um acht zum „Black Horse“ in Northfield bestellt, wo die Ausfahrten des Clubs starteten.
Beim Anblick der dort versammelten Personen und ihres Materials tat es ihm dann aber doch sehr leid, dass er ohne sein Trek angereist war. Es gab einen „A-Run“ und einen von Umfang und Geschwindigkeit verminderten „B-Run“, und die Jungs und Mädels des A-Run wären normalerweise genau seine Kragenweite gewesen, aber mit dem schweren Touren-Esel war er im hügeligen Gelände des Black Country doch etwas gehandicapt. Deshalb schloss er sich den Leuten vom B-Run an, was zunächst den Vorteil hatte, dass er einmal nicht der älteste Teilnehmer war. Nicht einmal annähernd. Und die rüstigen Rentner hatten viel zu erzählen. An jeder Scheune und an jedem Feldweg fiel ihnen irgendeine Geschichte ein: dieses Landhaus hat die Tochter von Paul McCartney gekauft; auf der Wiese hinter diesem Zaun existiert ein einzigartiges Biotop, nachdem die Chemie-Fabrik, die dort früher existiert hat, von den Deutschen „als die Beziehungen unserer Länder noch nicht so freundschaftlich waren“ bombardiert und das verseuchte Gelände jahrzehntelang abgesperrt und die Natur sich selbst überlassen war. Und so weiter und so fort. Die Zeit verging wie im Fluge, bis der offizielle Pausenpunkt am Wembill Airfield erreicht war. Dort traf man auch wieder auf die Teilnehmer am A-Run, die die längere Strecke flott absolviert hatten, und gemeinsam nahm man am Flughafen-Imbiss den traditionellen Radler-Snack ein: Tee mit Toast und Bohnen.
Furchtlos passte sich unser Held den einheimischen Sitten an, und es schmeckte nicht einmal so schlecht, wie es sich anhörte. Mit Blick auf startende und landende Cesnas, Helikopter, Motorsegler etc. gab es unterhaltsame Pausengespräche. Eine Teilnehmerin des A-Run teilte ihm, nachdem er über seine Landlady geklagt hatte, mit, dass das Zimmer ihrer pubertierenden Tochter leer stünde. Allerdings wären sämtliche Wände schwarz gestrichen, was er selbst ändern müsse, falls es ihn störe. Als misstrauischer Mensch ging Jan erst einmal nicht weiter auf das Angebot ein, da er irgendwelche Hintergedanken vermutete, und auf den nächsten Ausfahrten tauchte die Frau nicht mehr auf. Damit war das Thema auch erledigt.
Irgendwann wurde zum Rückweg geblasen. Paul, der sogenannte „Captain“, hatte die Ausfahrt ausgetüftelt und war auch den gesamten Hinweg fast durchgängig an der Spitze gefahren. Und auch jetzt übernahm er sofort wieder die Führung. ‚Seltsame Sitten’, dachte sich unser Mann in England. ‚Der Captain hat hier echt die Arschkarte gezogen.’ Und so kam irgendwann, was zwangsläufig kommen musste: der Captain brach völlig ein und hing den Rest der Strecke nur noch am Schwanz der Gruppe, mit allerletzten Kräften den Anschluss wahrend.
Artig bedankte sich Jan am Ende mit dem englischen Pendant zu „war mal wieder jut jewesen“. Hier würde er ab jetzt öfter vorbeischauen.
Bei den folgenden Ausfahrten waren die Regeln dann nicht mehr ganz so streng. Zwar fuhr der verantwortliche Captain öfter vorneweg, insbesondere vor Abzweigungen und ähnlichem – er ließ sich aber auch häufig genug ins Feld zurückfallen und andere die Arbeit im Wind verrichten. Das taten dann oftmals auch welche, denen auf dem Hinweg vom A-Run der Zahn gezogen worden war, und die dann auf dem Rückweg ihr Selbstbewusstsein dadurch wiederherstellen mussten, dass sie dem B-Run ihr Tempo aufoktroyierten und die Rentner etwas auß der Puste brachten.
An der Teepause mit Toast und Bohnen wurde allerdings niemals gerüttelt. Auch nicht an jenem Tag, für den bereits am Vorabend in sämtlichen Medien eine Warnung vor aus Südwest heranziehenden schweren Regenfällen ausgesprochen worden war. Der Wendepunkt der Tour lag diesmal in Wales, mithin genau dort, woher die dunklen Wolken herrannahen sollten – weshalb unser Held den verwegenen Vorschlag machte, die Pause doch zu streichen und sich unterwegs kurz an einer Tankstelle zu versorgen. Der Vorschlag wurde aber noch nicht einmal ernsthaft diskutiert, und so wurde man nach der gewohnt gemütlichen Pause auf dem Heimweg noch ein Weilchen von der heranziehenden Regenfront gejagt und schließlich eingeholt. An diesem Tasg sollten sich die Himmelsschleusen dann auch nicht mehr schließen.
Zuhause angekommen musste das Gefährt erst einmal quer durchs Wohnzimmer in den Gartenschuppen getragen werden. Die dabei entstandenen Pfützen verursachten bei seiner Vermieterin beinahe einen hysterischen Anfall (während die Tatsache, dass Tash, ihre grosse schwarze Hündin, nahezu täglich auf den Wohnzimmerteppich exkrementierte nicht weiter erwähnenswert war). Aber wenigstens erlebte er überhaupt einmal einen Gefühlsausbruch ihrerseits, während sie ansonsten meist ziemlich stumm und etwas zombiehaft daherkam.
Neben den Ausfahrten mit dem club unternahm Jan auch Touren auf eigene Faust. Die hatten allerdings den Nachteil, dass er selbst den Weg finden musste. Und sich manchmal, nach diversen Richtungsänderungen auf schmalen Landsträßchen auf der „richtigen“ *, also der falschen Straßenseite wiederfand. So ganz war ihm auch nach Monaten der Linksverkehr nicht in Fleisch und Blut übergegangen.
* Wie hiess noch gleich dieser Film mit John Cleese, wo die falsche Verwendung des Wörtchens „right“ so fatale Folgen hat?
Eines Sonntags, als seine neuen Freunde von Beacon Road ihre Hillclimb-Clubmeisterschaften austrugen, wozu er zwar auch eingeladen war, was er sich jedoch mit dem 14-Kilo-Esel nicht unbedingt antun wollte, unternahm Jan auch eine Tour mit Steve, dem Plattenhändler. Dieser sah mit seinem MOLTENI-Campagnolo Replica-Shirt, seinen schwarzen Haaren und seinen „sideboards“ fast aus wie der junge Eddy Merckx, war früher Mitglied im englischen „running“-Nationalkader und hat immerhin eine Bestzeit von knapp 29 Minuten über 10 000 m zu stehen. Da diese Zeiten aber lange vorbei sind und das viele Bier auch seine überdeutlichen Spuren hinterlassen hat, gleicht seine Statur heutzutage eher der des alten Eddy M.
Deshalb war auch die übertriebene Rücksichtnahme auf Jan, was Tempo und Dauer der Tour betraf, vollkommen fehl am Platze. Bedächtig ging es durch Warwickshire, und je länger die beiden unterwegs waren, einen desto elenderen Eindruck machte der Einheimische. Die geschätzten sechs Kilo, die sein Rennrad leichter war als der Lastesel unseres Helden, brachte er selbst locker um ein Vielfaches an Übergewicht ein. Und so dehnte er auch die Pause am Friedhof in Tanworth-in-Arden übergebührlich aus, um dem legendären Singer / Songwriter Nick Drake zu huldigen, der dort lebte und nun begraben liegt.
Eine schöne Zeit war es gewesen, aber die Regentour nach Wales hatte unwiderruflich den Herbst eingeläutet – und damit gleichzeitig auch Jans Abschied von der Insel. Wettermässig konnte er sich nicht beschweren, die Klischees darüber hatten sich nicht erfüllt. Die über das Essen allerdings schon, und so hielt ihn hauptsächlich die Balti-Küche, die von Birmingham aus ihren Siegeszug angetreten hat, am Leben. Sein Stamm-Restaurant, in dem man sich nach Bezahlen eines Obulus von 6,50 Pfund unbegrenzt den Bauch füllen (und auch noch, da lizenzlos, sein eigenes Bier mitbringen) durfte, hatte sich als Carboloading-Station nach langen Radtouren als nur bedingt geeignet herausgestellt. Die Mengen, die Jan dann normalerweise in sich hineinzuschaufeln pflegte, vertrug er nicht so gut, wenn es sich dabei um scharf gewürzte Speisen aus dem indisch-pakistanischen Grenzgebiet handelte. Und die Mengen an Bier auch nicht, die er zur Löschung der Brände hinterherkippen musste. (Anmerkung: alkoholfreie Getränke kamen deshalb nicht in Frage, weil sie im Lokal ein Vermögen gekostet hätten, während das Bier aus dem preiswerten Liquor-Shop stammte.) Glücklicherweise war der Heimweg nicht allzu weit, wenn man erst einmal den Versuchungen, die vor den rotbeleuchteten Eingangstüren in der Ladypool Road lockten, entkommen war.
Es hätte jedoch noch schlimmer kommen können, wie das Abschiedsessen mit Steve und den Jungs in dessen Lieblings-Balti bewies. Halbblind stocherte unser Held auf dem Teller herum, während sich wahre Sturzbäche aus den Augen über Gesicht und Essen ergossen. Ein wirklich höllisches Mahl.
Ansonsten war es wirklich kalt geworden Ende Oktober. Seine Vermieterin war seit etlichen Tagen spurlos verschwunden, und alleine hatte sich unser Held nicht getraut, die Heizungsanlage in Betrieb zu nehmen. Einen Tag nach seinem letzten Arbeitstag, der zufälligerweise auch sein Geburtstag und mit den dazugehörenden Feierlichkeiten verbunden gewesen war, nahm er verkatert von der Insel Abschied. Dieser fiel dank eines veritablen Unwetters ziemlich krachend aus. Auf überfluteten Strassen und an etlichen Sperrungen vorbei erreichte er auf den letzten Drücker den Flughafen. Und die Stadt Birmingham hatte sich nicht lumpen lassen: als Abschiedsgeschenk gab es den intensivsten und strahlendsten Regenbogen, den unser Held jemals im Leben erblickt hat.
Der längste Tag – Wir sind Helden (oder Deppen?)
Stadt
Samstag, 16. Oktober 2004, 4:30 Uhr morgens. Das zwar vertraute, aber dennoch negativ assoziierte Piepen der Polar-Weckfunktion reisst mich aus dem viel zu kurzen Schlaf. Nach kurzem Nachdenken legt sich die schlaftrunkene Verwirrung, und ich habe die Antworten auf die essentiellen Fragen „Wo bin ich?“ und „Was will ich hier?“ parat:
Ich befinde mich in einem ca. fünf Quadratmeter großen Einzelzimmer des Telekom(!)-Tagungshotels Hamburg-Bergedorf. In den Schlafverschlägen neben mir nächtigen drei Kollegen, mit denen ich mich aus einer Schnapslaune heraus zum Mannschafts-Zeitfahren Hamburg – Berlin angemeldet habe.
Die morgendlichen Verrichtungen laufen automatisiert und ohne Einschaltung des Gehirns ab – die Routine aus etlichen Radmarathons zahlt sich halt aus. Um 5:15 Uhr stehen wir komplett ausgerüstet vor dem schmucklosen Betonkasten. Es ist stockfinster, nur das magentafarbene grosse „T“ leuchtet über uns und stimmt uns auf unser Tagwerk ein.
Am S-Bahnhof Bergedorf warten schon ein halbes Dutzend Radler aus Hamburg auf uns. Unter ihrer Führung machen wir uns Richtung Fährhaus Altengamme an der Elbe auf. Es ist schweinekalt, die Strassen sind nass und glitschig. In einer schnell genommenen Rechtskurve rutscht mir das Hinterrad weg – Schrecksekunde am frühen Morgen, spätestens ab jetzt bin ich hellwach.
Land
Schnell lassen wir die letzten Lichter der Großstadt hinter uns – durch unbeleuchtete Alleen zuckeln wir schweigend hinter den Hamburgern her. Ohne deren Führung hätten wir uns schon vor dem Start hoffnungslos verirrt.
Am Fährhaus dann endlich wieder Anzeichen von Zivilisation. Insgesamt 70 Bekloppte haben sich als Einzelstarter oder in Teams zwischen zwei und fünf Personen angemeldet und stärken sich nun am üppigen Frühstücks-Buffet.
Ab 6:30 Uhr geht es dann los. In Minutenabständen gehen die Teilnehmer auf die Reise ins Ungewisse. Unsere Startzeit ist 6:52 Uhr, die netten Frauen vom Audax-Club Schleswig-Holstein schießen noch ein paar Fotos von uns und wünschen uns gute Fahrt.
Aber im Leben gehen halt nicht alle Wünsche in Erfüllung. Kaum habe ich den zweiten Fuss ins Pedal eingeklickt und will auf Reisegeschwindigkeit beschleunigen, da höre ich schon den „Stopp“-Ruf des Kollegen Weddinger – platt nach gerade mal 170 Metern!
Der Reifenwechsel geht aufregungsbedingt zwar nicht ganz so fix wie normalerweise, aber dennoch relativ zügig vonstatten. Das eigentliche Problem ist, mit einer Mini-Pumpe ausreichenden Druck auf den schmalen Rennrad-Reifen zu bringen – die ganze Aktion kostet zwei Leute schon die ersten Körner und unser Team ganz erheblich Zeit – nach und nach ziehen die hinter uns startenden Teams vorbei. Am defekten Schlauch war im übrigen kein Loch zu finden, aber beim testweisen Aufpumpen reißt die Ventilklappe ab – die Ursache wird uns später noch klar werden.
Fluss
Nach endloser Zeit (ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber es zeichnen sich erste hellere Flecken am schwarzen Firmament ab) geht es endlich richtig los. Noch sind wir nördlich der Elbe, aber nach ca. vier Kilometern sollen wir den Fluss vor Geesthacht überqueren und müssen dann laut Ausschreibung bis Kilometer 90 südlich bleiben. Erst bei Dömitz, wo sich die einzige Kontrollstelle befindet, darf der Fluss dann wieder überquert werden.
In der Dämmerung taucht das Ortsschild „Geesthacht“ auf, ein Blick auf den beleuchteten Stadtplan am Ortseingang bringt die Gewissheit – verfahren! Schon nach wenigen Kilometern der zweite heftige Dämpfer für unsere Motivation. Als wir die Elbbrücke endlich erreichen, biegt vor uns gerade das letzte gestartete Team (mit Burkhard, dem Veranstalter) ein. Deren Startzeit war 7:30 Uhr – wir haben uns also nach offiziellen 3,4 Kilometern der Strecke einen Rückstand von 38 Minuten eingehandelt (ein schwacher Trost, dass wir immerhin schon 13 km auf dem Tacho stehen haben).
Einen Vorteil hat die ganze Sache: Wir können von der Ortskenntnis der Gruppe vor uns profitieren. Mal geht es links hinein in einen unscheinbaren Weg, dann rauf auf den Elbdeich, dann wieder runter – etliche Möglichkeiten, sich zu verfahren.
Aber das Glück ist bekanntlich ein flüchtiger Geselle. Schon wenig später lässt mir der erneute Ruf „platt“ einen Schauer über den Rücken laufen. Die andere Gruppe entschwindet hinter dem Deich, und Kollege Campi widmet sich der Instandsetzung seines Sportgeräts.
Spätestens jetzt sind alle sportlichen Ambitionen Makulatur. Waren wir uns bei der Planung der Sache nicht ganz einig gewesen, wie wir die Herausforderung angehen sollten (ich hatte für mindestens 32er Schnitt und keine Pausen plädiert, andere wollten langsam angehen und nur auf „Ankommen“ fahren), so ist jetzt sonnenklar: es geht nur noch ums Überleben. Der Kontrollschluss bei Dömitz um 11 Uhr wächst zur ernsten Herausforderung an.
Irgendwann gehen wir wieder auf die Reise. Es gibt nur noch ein paar unbedeutende Zwischenfälle: Kollege Schmadde will den gesamten Rückstand in einer einzigen Kurve wieder gutmachen und legt sich beinahe lang, wir biegen auf der touristischen „Elbuferstrasse“ erstmal in die falsche Richtung usw. …
Gebirge
Wir rollen durch den Kreis Lüchow-Dannenberg, für meine Generation das Symbol für den Kampf gegen die Atomenergie. Kleine Sträßchen, wenig Verkehr, Kühe, Schafe, Schaf-Scheiße auf der Straße, Güllegeruch, Traktorenbrummen – friedlich geht es zu in der Gegend, und das Radeln macht mal wieder extremen Spaß.
Am Abzweig nach Hitzacker habe ich plötzlich eine Halluzination. Ich sehe ein Verkehrsschild „bis zu 13% Steigung bergauf und bergab“. In dieser Gegend? Das halte ich für vollkommen ausgeschlossen. Aber schon steigt die Straße an – hinter einer bewaldeten Kurve vermute ich das Ende der Steigung und sprinte bergan. Nun geht es linksrum hoch, und die zuverlässige Campa-Record von anno ’93 befördert die Kette erstmal ein paar Ritzel weiter nach oben. Ein echter Berg – damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet!
Irgendwann ist der „Kulminationspunkt“ erreicht, und Kollege Weddinger brettert im grössten Gang bergab. Da heisst es ordentlich treten, um dranzubleiben. Alsbald geht es wieder bergan, wieder mit dem ominösen 13%-Schild, und das wiederholt sich noch einige Male, Bei der Schussfahrt in eine Senke zeigt der Computer eine Höchstgeschwindigkeit von über 70 Sachen an. Mehr hatte ich diese Saison nur auf meinen Schwarzwald-Touren zu bieten.
Hinter Quickborn geht es nördlich in Richtung Elbbrücke Dömitz. Die knappe Zeit bis zum Kontrollschluss und der erstmalige Rückenwind wecken die Lebensgeister des Kollegen Schmadde. Im Affenzahn brettern wir über die Brücke, auch bei Kurven zieht er voll durch und auf nassem Untergrund rutscht Kollege Weddinger in die Leitplanke. (Dass nicht mangelhafte Kurventechnik die Ursache ist, wird sich später herausstellen.)
Auf jeden Fall ist unser Timing nahezu perfekt. 5 vor 11 erreichen wir die Kontrollstelle. Erstmals seit langer Zeit sehen wir wieder andere Teilnehmer, vor allem Liegeradler. Die netten Frauen von der Organisation verpflegen uns (u.a. mit sehr leckeren selbstgebackenen Keksen), fotografieren uns schon wieder und geben uns aufmunternde Worte auf den Weg. Nur noch schlappe 180 Kilometer liegen vor uns.
Wind
Wir fahren durch Mecklenburg-Vorpommern, und jetzt ist das Land auch so platt wie man es sich vorstellt. Es geht durch kleine Ortschaften und Felder, und allmählich kristallisiert sich der Hauptfeind des Tages heraus: ein kalter Südwind. Dem stemmen sich inzwischen nur noch Schmadde und ich entgegen – von den beiden anderen ist keine Unterstützung mehr zu erwarten. Die Aussicht auf sehr anstrengende Stunden bis ins Ziel mobilisiert meinen Kampfgeist.
Kurzzeitig führt der Weg wieder nach Norden – mit Tempo 40 bollern wir übers flache Land. So ungefähr hatte ich mir das für die komplette Strecke vorgestellt.
Vor Karstädt biegen wir auf die B5 in südöstlicher Richtung. Nach unseren morgendlichen Orientierungsproblemen hatte ich mir die B5 herbeigesehnt – nur noch geradeaus nach Berlin, jegliches Verfahren ausgeschlossen. Jetzt, wo es so weit ist, kein wirklich schöner Moment. Sofort pfeift mir wieder der kalte Wind entgegen, statt pittoresken Landschaften nur noch eine breite gerade Strasse und in der Ferne eine Eisenbahnüberquerung.
Nun wird es wirklich eintönig. Noch sind 130 km zu fahren, der Wind kommt von seitlich vorne, die Strasse hat etliche Wellen und nach jeder Welle ist Kollege Campi abgehängt. Der arme Kerl leidet sichtlich und wir müssen unser Tempo drosseln, um ihn nicht dauernd zu verlieren. Kontrollschluss am Ziel ist um 18 Uhr, ungefähr um diese Zeit ist auch Sonnenuntergang. Die sportlichen Ambitionen schrumpfen auf das absolute Minimalziel: Ankommen!
Hinter Perleberg treffen wir auf Andreas, unseren Fahrer. Gelegenheit zur Nahrungs- und Getränkeaufnahme, Klamottenoptimierung und Technik-Check. Dabei stellt sich heraus, dass Kollege Weddinger nur 3,5 bar Druck auf dem Vorderreifen hat. Er war einfach morgens mit unserer Standpumpe nicht zurechtgekommen, sich am Hinterrad die Ventilkappe ruiniert (Ursache für die Panne am Start) und am Vorderrad die Luft abgelassen statt aufzupumpen (Ursache für mangelhaftes Kurvenverhalten). Ausserdem fuhr er den ganzen Tag mit einem aerodynamisch sehr zweifelhaften Kamel-Sack auf dem Buckel. Dies alles hatte ihm die Kräfte geraubt.
Sonne
Wenn ich etwas hasse, dann im Regen Rad zu fahren. Die Prognose für den Tag war sehr durchwachsen gewesen. In der Nacht hatte es in Hamburg geregnet, die Strassen waren nass. Danach sollte es weitgehend trocken bleiben, erst im Berliner Raum war wieder mit Schauern zu rechnen. Aber wenigstens in dieser Hinsicht hatten wir Glück. Wir kamen gänzlich ohne Regen durch den Tag und häufig schien die Herbstsonne durch dünne Hochnebelfelder.
Nach unserem Boxenstopp bot unsere Reisegruppe ein verändertes Bild. Plötzlich tauchte Weddinger, der seit Stunden nicht mehr im Wind gefahren war, an der Spitze auf und machte Tempo. Ein abgeworfener Kamelsack und richtig Druck auf dem Reifen machten ihn wieder zu dem, als der er mir geschildert worden war: ein liebenswerter Chaot mit ordentlich Power in den Waden.
Zuviel Power allerdings für unseren Freund Campi, der zusehends zu einem Häuflein Elend mutierte. Alsbald ließ er nicht nur auf den Wellen abreißen, sondern auch im Flachen, sobald das Tempo die 30 km/h-Schwelle überschritt. Während Weddinger im Prinzip die ganze restliche Strecke vorne fuhr und Schmadde dahinter, übernahm ich die Rolle des barmherzigen Samariters und führte Campi jedesmal mit gleichmässigem, nicht zu hohem Tempo wieder heran. Unsere Reisegeschwindigkeit war zwischendurch so stark gesunken, dass die Liegeradler, die wir zwischenzeitlich überholt hatten, uns wieder ein- und überholten.
Irgendwann zahlte sich mein gleichmässiges Tempo für Campi dann aus. Er hatte die schlimmste Schwäche überwunden. Ganz allmählich erhöhten wir das Tempo und erreichten wieder die Sportsfreunde mit den 68er-Kettenblättern. Im grossen Pulk erreichten wir Spandau und das Ziel in der Lutoner Strasse. Die Uhr zeigte 17:59. Eine Minute vor Kontrollschluss – das nennt man wohl Punktlandung.
Zahlen
Vom Start in Altengamme bis ins Ziel waren es bei mir exakt 283,93 Kilometer (offizielle Streckenlänge waren 271,9 – also 12 Bonuskilometer durch Verfahren). Die reine Fahrzeit betrug 9:22:31 Stunden, das entspricht einem Schnitt von 30,3 km/h.
Mit der Anfahrt zum Start und vom Ziel zur U-Bahn bin ich nur ganz knapp an der 300 km-Grenze vorbeigeschrammt. Insgesamt waren wir fast 12 Stunden unterwegs.
Die Frage in der Überschrift habe ich für mich selbst noch nicht ganz geklärt.
„Rosenwinkel“ also
Mein Chefmechaniker hatte mir von diesem Rennen erzählt. Von netten Leuten organisiert, auf nicht abgesperrter Strecke und nicht vom spießigen BDR lizenziert war es irgendwie illegal. Dieser Nimbus des Verruchten zog einen Tom-Ripley-Fan wie mich natürlich sofort an, und mein Chefmechaniker musste keine großen Überredungskünste aufbringen. Ich sagte sofort zu, und so machten wir uns eines schönen Freitag abends im Herbst auf den Weg in die Prignitz.
Mein Chefmechaniker kannte die Leute, die das Ganze organisierten, und so konnten wir dort auf einem von exilierten Grosstädtern ausgebauten Bauernhof übernachten. Dort bekam ich unter anderem zum ersten mal in meinem Leben ein Wollschwein zu Gesicht, aber das nur am Rande.
Für das Rennen am nächsten Morgen hatten sich die Organisatoren mächtig ins Zeug gelegt. Begleitend dazu hatten sie eine Ausstellung mit historischen Fahrrädern organisiert, darunter auch ein echtes Hochrad. Einige dieser Maschinen gingen dann mit an den Start. Auf den ersten zehn neutralisierten Kilometern bildeten sie die Vorhut des etwa 50 Fahrer starken Feldes – ganz vorneweg der Hochradfahrer, stilecht gekleidet in Frack und Zylinder.
Das Peloton selbst war auch eine ulkige Mischung aus etwa zwei Dutzend ambitionierten Rennradlern, etwa ebensovielen halbwegs fitten Freizeitradlern und einer Handvoll Gelegenheitsradlern, für die die Unternehmung ein echtes Abenteuer war, und denen es nur darum ging, die Distanz von 100 Kilometern halbwegs anständig zu bewältigen. Nach dem ‚Départ réel‘ blieb der ganze Haufen bei moderatem Tempo zunächst noch beisammen, die Rennradler waren noch beim Quatschen und ein paar Anorak-und-Turnschuh-Fahrer traten mächtig in die Pedale, um zu beweisen, dass sie mindestens genau so gut drauf sind.
Nach einigen Kilometern bog man auf eine Bundesstraße ein, und mir wurde das in einem großen Pulk mit weitgehend ungeübten Fahrern dann doch etwas zu heikel. Ich verschärfte kurz das Tempo, und innerhalb weniger Sekunden war das Feld in zwei Teile zerrissen. Genau das war mein Plan gewesen, und so hätte man es wieder etwas lockerer angehen lassen können. Aber andere hatten andere Pläne – und das war überhaupt nicht nach meinem Geschmack.
Ich bin eigentlich ein Marathon-Mann. Das heisst meine Stunde schlägt meistens dann, wenn die anderen schlapp machen – so ab etwa 160 Kilometern . Ich kann also ein relativ hohes Tempo über einen langen Zeitraum durchhalten . Was ich nicht kann ist richtig schnell fahren (so etwa ab Tempo 50 im Flachen möchte mein Mageninhalt immer unbedingt ans Tageslicht, was ich nur mit Mühe verhindern kann). Außerdem brauche ich prinzipiell eine längere Einrollzeit, um auf Betriebstemperatur zu kommen. Der sicherste Weg, um mich zu „killen“, ist also, das Rennen sehr früh und sehr schnell zu lancieren. Und einige hatten scheinbar genau dieses vor.
Es wurde also sofort eine wilde Hatz. Die Spitzengruppe war schnell auf zwölf, dann zehn, dann acht Leute zusammengeschrumpft, und ich kämpfte am Ende einen verzweifelten Kampf, um nicht abgehängt zu werden… Mein Chefmechaniker registrierte meinen Zustand und versuchte mir gut zuzureden, als ich erste kleine Löcher reißen ließ: „Du packst das! Die anderen sind auch alle am Limit.“ Aber ich packte es nicht. „Ich hab heute nichts drauf, fahr ohne mich!“ röchelte ich ihm noch zu. Kurz darauf war der Faden dann gerissen.
Mißgelaunt fand ich mich, nachdem ich ein paar Zähne hochgeschaltet hatte, in einem Grüppchen Versprengter wieder. Allen waren vor kurzem ihre Grenzen aufgezeigt worden, entsprechend waren Laune und Motivation. Der ganze Sauhaufen fuhr völlig sinn- und planlos mehr gegen- als miteinander, und ich überlegte ernsthaft, ob ich mich ganz ins Grüppchen der Gelegenheitsradler zurückfallen lassen sollte, um das Gespräch mit der attraktiven Brünetten fortzusetzen, das ich bis zum scharfen Start geführt hatte. Aber das hätte wohl kein gutes Bild abgegeben und wäre nur schwer zu erklären gewesen.
Also versuchte ich, die Verfolgung der sechs Mann, die entwischt waren, einigermassen zu organisieren. Nach und nach hatten die Verfolger ihre psychischen Wunden geleckt und waren wieder zu sinnvollem Gruppenfahren in der Lage. Wir fuhren wieder einen ganz ordentlichen Streifen zusammen, und das Rennen fahren begann wieder Spass zu machen. Zumal von der Spitzengruppe weitere Fahrer zu uns zurückfielen. Als schliesslich Olli (ein Ötztal-Finisher des selben Jahres, mit dem ich mich vor dem Start unterhalten und den ich als „genau meine Kragenweite“ eingestuft hatte, mit einem Jungspund im Schlepptau wieder bei uns „Guten Tag“ sagte, waren wir zu acht – gegen nur noch drei Mann vorne. Sollte da doch noch etwas gehen?
Der Jungspund hatte für uns als Verfolgergruppe noch einen weiteren Vorteil – seine Mutter oder ältere Schwester (so genau weiß ich das nicht mehr) begleitete ihn im Auto. Wir fuhren zwar meistens auf einer vorfahrtberechtigten Strasse und mussten uns nicht um den Verkehr kümmern. Aber als wir eine Bundesstrasse mit zusätzlicher roter Ampel kreuzen mussten fuhr die Begleiterin laut hupend und mit einem Fähnchen aus dem Fenster winkend auf die Kreuzung und sperrte uns den Weg frei. Sehr praktisch das, muss ich sagen… Und auch beinahe von Erfolg gekrönt, denn auf einer langen Geraden hatten wir das Spitzentrio plötzlich wieder im Blickfeld. Sie waren höchstens noch zweihundert Meter voraus, so dass ich gut beobachten konnte, wie sich mein Chefmechaniker umdrehte – und vor lauter Schreck von der Fahrbahn abkam, als er die Verfolger erblickte. Als geübter Crosser und Mountainbike-Fahrer war es für ihn allerdings eine Leichtigkeit, wieder auf das Asphaltband zu springen, und nach einer kleinen Tempoverschärfung waren die drei wieder hinter der nächsten Kurve verschwunden. Und da es auch in unserer Gruppe allmählich zu bröseln begann, konnten wir einen Podestplatz wohl endgültig abschreiben.
Aber irgendwann traute ich meinen Augen nicht: Joe, der legendäre Sieger des Vorjahres, der mit seinem umgebauten Wohn-Bully als Begleitfahrzeug angerückt war, kam von vorne zurück. „Großartige Verstärkung für unsere Gruppe. Und die anderen beiden werden das Höllentempo auch nicht mehr lange durchhalten!“ ging es mir durch den Kopf. Allerdings sah Joe bereits mächtig angeknockt aus, und brachte fast mehr Unruhe in unsere Gruppe, als dass er uns geholfen hätte: Während Dutzender Kilometer kam der starke Wind rechts von der Seite, und wir fuhren entsprechend nach links aufgefächert. Immer wenn Joe nach getaner Arbeit aus der Führung ging, beschleunigte er erst und fuhr dann vorne links am Hintermann vorbei, diesen dabei fast abräumend und völlig sinnlos Kräfte verplempernd. Na ja, Triathleten wie er haben das Gruppenfahren ja ohnehin nicht gerade erfunden und soll er doch machen was er will. Als er allerdings anfing, die anderen mit „Fahrt doch gefälligst auch links raus!“ anzuraunzen, musste ich dann doch ein Machtwort sprechen. Und habe mir dabei gleich wieder einen Freund fürs Leben gemacht.
Irgendwann war dann auch der Jungspund mit seinen Kräften am Ende. Olli, Joe und ich gegen die beiden Führenden lautete ab da die Rechnung. Das sah zahlenmäßig schon gar nicht mehr so gut für uns aus. Dank Joe hatte unsere Gruppe aber nach wie vor ein Begleitfahrzeug, und das schickten wir dann mal nach vorne, um die Lage zu peilen… „Eine Minute Rückstand“, lautete die ernüchternde Botschaft. Bei nur noch gut zehn zu fahrenden Kilometern war klar, dass die ersten beiden Plätze vergeben waren. Und wir drei würden den letzten Podiumsplatz unter uns ausmachen.
Wir gaben also die Verfolgung auf und konzentrierten uns ganz auf unseren Dreikampf. Dabei legten wir zunächst noch gentlemenhaftes Verhalten an den Tag: Als Olli die Abzweigung auf die kleine Straße zum Ziel übersehen hatte, nutzten wir das nicht aus, um einen Konkurrenten weniger zu haben, sondern warteten brav auf ihn. Nachdem es dann zuerst über einen äußerst holprigen Bahnübergang und anschließend scharf links ging, war Olli allerdings schon wieder verschwunden. Joe und ich guckten uns erst ratlos an, trödelten ein wenig und fuhren dann aber doch weiter, nachdem Olli nicht wieder auftauchte. Wir hatten schliesslich einen mit 10,- DM dotierten dritten Platz auszufahren. (Wie wir später erfuhren hatte sich Olli an dem Bahnübergang das Vorderrad platt gefahren und deshalb die anschließende Linkskurve nicht mehr gekriegt, so dass er geradeaus im Gebüsch landete – arges Künstlerpech im Finale also.)
Ein Duell Mann gegen Mann um Platz 3 also. Baby, diese Strasse ist nicht breit genug für uns beide! Und ich beschloss, ihm psychologisch schon ein wenig auf den Zahn zu fühlen. „Du bist doch der Vorjahressieger, oder?“ frage ich, links neben ihn fahrend. Schwaches Kopfnicken und matter Blick seinerseits, fröhlich grinsendes „Oh, da werde ich ja keine Chance auf den dritten Platz mehr haben!“ meinerseits.
Da uns auf der engen Strasse noch ein Auto entgegenkommt habe ich auch noch einen Grund, mich hinter ihn zurückfallen zu lassen. Den Platz an seinem Hinterrad gebe ich anschließend nicht mehr her. Alle seine Versuche mich loszuwerden, sind zum Scheitern verurteilt, lässig lasse ich ihn auf den letzten hundert Metern einfach stehen. Unter den enttäuschten Blicken seiner Freundin im Sprint dermaßen deklassiert zu werden, macht mich ihm auch nicht wirklich sympathisch, und so wechseln wir den Rest des Tages kein einziges Wort mehr.
Auch nicht auf der abendlichen Siegesfeier. Die rührigen Organisatoren haben keine Kosten und Mühen gescheut und eine erstklassige Fete in der Dorfkneipe auf die Beine gestellt. Die eigens aus Österreich engagierte Band war richtig gut – trotzdem habe ich ihren Namen leider völlig vergessen. Ich wurde als Drittplatzierter auf die Bühne gerufen, mit dem Preisumschlag bedacht und ordentlich bejubelt. Es war einfach toll, Dritter geworden zu sein. Viel besser sogar als Zweiter oder Erster.
Erster war ein A-Fahrer aus Potsdam geworden. Zweiter mein Chefmechaniker. Der hatte dem Sieger irgendwann nach getaner Tempoarbeit einfach nicht mehr folgen können, obwohl dieser nicht einmal das Tempo verschärft hatte. So waren die beiden ersten jeweils solo am Zielstrich eingetrudelt. Lediglich Joe und ich hatten beim Kampf um den dritten Platz noch etwas Spektakel fürs erstaunlich zahlreiche Publikum geboten. Der Sieger hatte sich anschließend gleich seinen Siegpreis aushändigen lassen und sich vom Acker gemacht. Dabei hatten sich die Organisatoren eine so schöne Zeremonie ausgedacht: Der Sieger sollte auf dem alten Hochrad in den Saal rollen und vom Rad direkt auf die Bühne hüpfen.
Kurzerhand kam dann der Zweitplatzierte zu dieser Ehre. Aber er musste gestützt werden, um mit dem ungewohnten Gerät nicht gleich umzukippen. Dann hat er beim Einfahren in den Saal die Höhe des Fahrzeugs unterschätzt und sich mächtig die Rübe am Türrahmen angeschlagen. Entsprechend ungelenk plumpste er dann auf die Bühne. Es war kein sehr gutes Bild, das er abgegeben hat – und mir wäre es an seiner Stelle garantiert keinen Deut besser ergangen.
Fast perfekt gelaufen also für mich. Und als sich dann später tatsächlich die attraktive Brünette zu mir an den Tisch setzte und so tat, als ob sie sich für Radsport interessierte, war das das Tüpfelchen auf dem i.
Radsport kann so schön sein. Ich werde wiederkommen und dieses Rennen gewinnen!!!
„Rosenwinkel“ revisited…
Ich kehrte zurück. Schon im folgenden Jahr. In besserer Form sogar – im absoluten Finale hatte ich gute Siegchancen. Trotzdem konnte die zweite Auflage dem Vorjahreserlebnis in keinster Weise das Wasser reichen, obwohl sogar die Brünette wieder mit von der Partie war .
Aber der Reihe nach: Durch meine begeisterten Erzählungen animiert begab sich dieses Mal fast mein halbes Team an den Start. Ansonsten war die Beteiligung eher mau. Das Rennen war erst sehr kurzfristig organisiert worden, und die Buschtrommeln hatten wohl nicht mehr viele Leute rechtzeitig erreicht. Das Rahmenprogramm, das mir im Vorjahr besonders gut gefallen hatte, fiel gar gänzlich aus.
Insgesamt waren höchstens 30 Leute am Start, etwa die Hälfte davon ambitionierte Rennfahrer. Das Prozedere war wie gehabt: zehn Kilometer neutralisiertes Rollen zum Start. Danach gemäßigtes Tempo bis zur Bundesstraße, kurzes Beschleunigen – und die echten Rennfahrer waren unter sich.
Von den Top Five des Vorjahres waren lediglich mein Chefmechaniker und ich erschienen, und da die zwölfköpfige Spitzengruppe fast zur Hälfte aus meinen Teamgefährten bestand unterblieben diesmal die mir auf den Magen schlagenden frühen Tempoverschärfungen und Ausreißversuche. Stattdessen entwickelte sich quasi ein Mannschaftszeitfahren auf hohem Temponiveau. Das rührte wohl daher, dass sich unser Team zwei Wochen vorher zum wiederholten Male an einem 50-Kilometer-Vierer (1) versucht und dort aufgrund mangelhafter Koordination nicht den eigenen Erwartungen gemäß abgeschnitten hatte. Am dort angepeilten 40er-Schnitt waren wir gescheitert. Wir hatten also etwas gutzumachen, und diesmal sollten wir die Marke knacken, so viel schon einmal vorweg.
Schon nach der Hälfte der Strecke waren wir fünf unter uns, keiner der anderen konnte unserem Tempo auf Dauer folgen. Und so bog ein gut harmonierendes Fünfer-Grüppchen auf die kleine Straße Richtung Ziel, das ein Jahr zuvor Schauplatz eines dramatischen Kampfes um den dritten Platz gewesen war. Diesmal war noch alles offen, es wurden nach wie vor schnelle, gleichmäßige Führungen gefahren, das Finale war noch nicht eröffnet. Auch der reifenkillende Bahnübergang wurde von allen schadlos überquert und es ging geschlossen auf die letzten vier Kilometer. Wer würde die erste Attacke wagen?
Ich hatte da so eine Ahnung und mich deshalb nicht ohne Grund am Hinterrad von „dem Tier“ eingeordnet, einem Berserker vor dem Herrn. Er fuhr erst seine zweite Saison bei uns, war aber aufgrund seines Leistungsvermögens bereits von allen neidlos als neuer Teamkapitän akzeptiert. Und mein Näschen hatte mich nicht getrogen: Kaum war sein Vordermann aus der Führung gegangen trat „das Tier“ in die Pedale, dass sich die Lagerwelle bog. Genau dies hatte ich erwartet und beschleunigte umgehend ebenfalls. Du wirst mich nicht los, mein Freund, und wenn ich dabei draufgehe! Nach einigen Momenten, in denen ich schwer auf der Hut vor neuerlichen Tempoverschärfungen oder Wellenlinien war, wagte ich einen Blich zurück: 20 Meter Vorsprung klafften bereits zu den anderen, wo sich Don Haraldo, unser früherer Kapitän, zähnefletschend und verzweifelt um den Anschluss bemühte. Wie weit war noch zu fahren? Zwei, allerhöchstens zweieinhalb Kilometer. „Los! Das packen wir!“ ruft mir in dem Moment „das Tier“ zu. Noch zweifle ich daran, gehe aber dennoch mit durch die Führung. Und tatsächlich: Auch als das Überraschungsmoment vorbei ist wird das Loch nicht kleiner. Im Gegenteil, unser Vorsprung vergrößert sich langsam aber stetig.
„Bingo!“ jubiliere ich innerlich. Zumindest Platz 2 ist schon mal sicher. Höchste Zeit, ein paar Gedanken an die Sprintgestaltung zu verschwenden. Zwar ist mein Kompagnon physisch eindeutig stärker als ich, aber ganz ungewieft bin ich nicht im Kampf Mann gegen Mann. Hinzu kommt, dass der Kollege meistens doch recht verschwenderisch mit seinen Kräften umgeht, exemplarisch beim legendären „Erkner-Incident“, worauf ich aber später noch detailliert einzugehen beabsichtige. Chancenlos auf den Sieg bin ich also keineswegs, aber gerade als ich meine taktischen Überlegungen abgeschlossen habe (wobei ich da eigentlich nicht viel zu überlegen hatte: einfach nur noch am Hinterrad bleiben und aus der letzten Kurve heraus vorbeiziehen), passiert es: Mein Vordermann ruft „Achtung!“ und bringt sein Sportgerät mit quietschenden Bremsen zum Stillstand. Ich habe Mühe, eine Kollision zu vermeiden, und realisiere dann erst den Schlamassel. Wir waren geradeaus in eine Sackgasse gefahren, die anderen zogen hechelnd und mit roten Köpfen an uns vorbei, um den Sieg unter sich auszumachen.
„Das Tier“ wendet blitzschnell sein Rad und keult hinterher. Er wird sogar noch Zweiter. Strahlender Triumphator ist Don Haraldo (2) mit seinem letzten großen Auftritt auf der Radsportbühne. Bei mir hingegen ist die Luft raus. Lustlos rolle ich als Fünftplatzierter über den verwaisten Zielstrich. Wir waren so schnell unterwegs gewesen, dass weder Kampfrichter noch Zuschauer bereits mit uns gerechnet hatten.
Trotz eindeutig besserer Leistung als ein Jahr zuvor ist mein Resultat schlechter. Und auch Stimmung und Laune sind nicht ganz optimal. Um ein Haar hätte ich mein Versprechen eingelöst, so aber bleibt mir nur übrig, es zu erneuern:
Ich werde wiederkommen und dieses Rennen gewinnen!!!
Zwölf Monate später…
Etwas unprofessionell und spannungstötend, es bereits vorwegzunehmen, aber der geneigte Leser, der meinen Ausführungen bis hierher gefolgt ist, wird es bereits ahnen: Es kam das Jahr, in dem ich meine Form weiter steigern konnte, ohne dass sich dies im Resultat bei meinem Lieblingsrennen niederschlagen sollte. Aufgrund gesundheitlicher Unpässlichkeiten konnte ich leider nicht entscheidend in den Endkampf eingreifen, und meine „Rosenwinkel“-Performance blieb eine Unvollendete. Aber der Reihe nach.
Unser Team war wieder mit fünf Mann per Regionalexpress unterwegs in die Prignitz. Meine Laune war von vornherein nicht die beste. Ich litt an einer heftigen Erkältung und konnte nur unter Drogeneinfluss an den Start (der eine oder andere Leser wird sich vielleicht erinnern). Die Laune besserte sich auch nicht, als wir im Zug auf Helmut trafen, den ich vom Uni-Radsport her kannte, und der mir mit seinem Geschwätz meistens wahnsinnig auf die Nerven ging. Wenige Tage vorher hatte mich während einer anderen Bahnfahrt mit Rad ein nettes , attraktives Girl angequatscht und mit mir über Fahrradmitnahme bei der Bahn, Radfahren im Regen und Fahrradwerkstätten geplaudert. Wir stellten dann fest, dass wir einen gemeinsamen Bekannten hatten – eben diesen Helmut, und der war zu allem Überfluss auch noch ihr Freund. „Womit hat eine Nervensäge wie er so ein Klasse-Girl verdient?“ ging es mir durch den Kopf, und meine ganze schlechte Laune sollte sich auf ihn entladen.
Das Starterfeld war wieder größer, als im Jahr zuvor, und auch der überlegene Sieger von vor zwei Jahren war am Start präsent. Unser Kapitän, „das Tier“, hatte als Losung ausgegeben, dass dieses Mal für mich gefahren werden sollte, nachdem ich am Vorsonntag so überzeugend beim Schwarzwald-Ultra aufgetrumpft hatte. Ich nahm die Ehre allerdings nicht an. Erkältungsgeschwächt fühlte ich mich der Verantwortung nicht gewachsen.
Das Rennen nahm den üblichen Verlauf – Tempoverschärfung auf der Bundesstraße, und die Cracks waren wieder unter sich. Dann wurde ähnlich wie zwei Jahre zuvor weiter attackiert und gerast, als wäre das Ziel schon hinter der nächsten Kurve. Ich kämpfte zwar, geriet aber nicht ernsthaft in Schwierigkeiten. Helmut an meinem Hinterrad sah da schon schlechter aus, und da wir Kantenwind von links hatten, reifte in mir ein fieser Plan: Ich fuhr so weit wie möglich am rechten Fahrbahnrand, sodass er praktisch kaum noch Windschatten fand. Schließlich ließ ich sogar ein kleines Loch zu meinem Vordermann, das ich mit einem kurzen Antritt wieder zusprintete. Ich blickte mich um, und Helmut war weg: Mission accomplished!
Der Rest ist schnell erzählt: Eine siebenköpfige Spitzengruppe blieb bis zum Finale zusammen, auch dem Überflieger von vor zwei Jahren gelang es nicht, sich vorzeitig abzusetzen und ich war trotz Erkältung erstaunlicherweise auch noch dabei. Im Finale lancierte dann „das Tier“ eine seiner gefürchteten Tempoverschärfungen – um mir „den Spurt anzuziehen“, wie er später erzählte. Das einzige Opfer der Aktion war allerdings: Ich! Ich ließ abreißen, und von meinem drogenumnebelten Hirn kam keinerlei Aufforderung zum Gegenhalten mehr. Als Siebter rollte ich gemächlich ins Ziel, nachdem der Potsdamer bewiesen hatte, dass er nicht nur ein gnadenloser Tempobolzer war, sondern ihm die anderen auch im kurzen Sprint nicht das Wasser reichen konnten.
Fazit der „Rosenwinkel-Trilogie“: dreimal teilgenommen, Form jedesmal besser, Platzierung jedesmal schlechter. Dabei ließ ich es dann auch bewenden. Zumal die Veranstaltung inzwischen meines Wissens gänzlich eingeschlafen ist.
Kleiner Nachtrag noch: Später, viel später, kam auch Helmut ins Ziel. Er war sichtlich angefressen von meiner Aktion und würdigte mich keines Blickes. Ich musste aber schwer in mich hineingrinsen. War es mein fieser Charakter, der da zum Vorschein gekommen war? Ich streite alles ab und plädiere auf Unzurechnungsfähigkeit wegen exzessiven Drogenkonsums.
Anmerkungen:
(1) Das Vierer-Mannschaftszeitfahren war im Jahr zuvor der erste offizielle Auftritt unseres Teams bei einem Wettkampf gewesen. Die Urmitglieder hatten sich während einer Radreise in der Schweiz zusammengefunden, wo sie auf fast allen Etappen tête de la course gespielt hatten. Eine Etappe führte vom San-Bernardino-Pass hinunter ins Tessin nach Biasca. Wir vier hatten etwas herumgetrödelt, und die anderen hatten die Abfahrt bereits ohne uns in Angriff genommen. Wir nahmen die Verfolgung auf, und erwiesen uns nicht nur beim Klettern als die Stärksten der ganzen Gruppe. Im unteren, schon weitgehend flachen Teil der Abfahrt, rauschten wir im D-Zug-Tempo an den anderen vorbei. Lediglich einem der Reiseleiter gelang das Andocken an unser Grüppchen, und unsere Performance beeindruckte ihn so sehr, dass er uns den Tipp mit dem 50-Kilometer-Zeitfahren gab. Dort starteten wir dann auch zwei Monate später – wobei unsere Leistung als „ausbaufähig“ und meine persönliche als „miserabel“ zu bezeichnen war. Falls ich den Selbstekel überwinden kann, werde ich darauf möglicherweise noch ausführlicher eingehen.
(2) Mit Don Haraldo hatte ich auch einige nette Erlebnisse, das witzigste davon bei der ersten Austragung der HEW-Cyclassics 1996. Auch davon („Der alte Seemann kann nachts nicht schlafen“) werde ich noch berichten, falls mir die Redakteurin nicht vorher wegen mangelnder Quote den Saft abdreht.
Mallorca mit Markus, Mädels und Motoren
Wie schon erwähnt begab sich unsere kleine feine Sportgruppe im Frühjahr regelmässig zum Trainingslager auf die größte der Balearen-Inseln, meistens in der zweiten März-Hälfte. Das war zu jener Zeit, als es in Mitteleuropa noch einen Winter gab, der den Namen verdient hatte. Seither haben ja unsere motorisierten Freunde kräftig daran gearbeitet, dass es mit der Klimaerwärmung voran geht. Mit gutem Erfolg, so dass sie neuerdings schon im Februar mit geöffnetem Cabrio-Verdeck durch die Landschaft heizen können. Macht aber andererseits wiederum auch die Flüge ins Trainingslager überflüssig, womit der CO₂-Ausstoß reduziert würde. Möglicherweise also ein Nullsummenspiel in der Milchmädchenrechnung.
Im vorigen Jahrhundert war ein geregeltes Strassentraining während der Wintermonate jedenfalls schwierig bis nicht möglich, weshalb auch wir die Saisonvorbereitung „auf Malle“ absolvierten. Und wir waren weiß Gott nicht die einzigen, wie einem schon der Blick aus dem Fenster beim Landeanflug bewies: so ungefähr das erste, was man zu Gesicht bekam, waren Radfahrergruppen.
Das erste wiederum, was man nach der Landung, am Förderband auf sein Gepäck wartend, zu sehen bekam waren – Rentnerhorden. Kurz nach uns war ein Flieger aus Leipzig gelandet, dessen Gepäck am gleichen Band wie unseres ausgeladen wurde. Während wir noch gelassen auf unser Hab und Gut warteten, drängelten sich unsere älteren Mitbürger rabiat nach vorne, uns dabei auf die Zehen tretend und Ellbogen in den Magen rammend. Wirklich unglaublich, aber tatsächlich so geschehen. Aber muss man vielleicht auch verstehen. Sie sind ja in der „schweren Zeit“ gross geworden, wo man um alles kämpfen musste (also in einem „kompetitiveren Umfeld“, wie es ein berüchtigter Sozialdarwinist vom Main wohl nennen würde), und das sind bis heute prägende Erfahrungen.
Änderte allerdings nichts daran, dass unser Flieger trotzdem als erster entladen worden war und die Gepäckstücke am laufenden Band vorbeirollten. Die Altersstarrsinnigen machten jedoch keinerlei Anstalten, uns durchzulassen, und das machte mich dann doch allmählich wütend. So musste auch ich einige Senioren zur Seite schubsen, als ich meiner Gepäckstücke ansichtig wurde. Und als ich meine Fahrradtasche in schwungvollem Bogen vom Band hievte mähte ich dabei ein halbes zeterndes und keifendes Altersheim um. Stolz bin ich nicht darauf, aber für mein geistiges Wohlbefinden war es okay.
Unser Standort im Nordosten der Insel war jedesmal der selbe, allerdings hatte ich häufig wechselnde Partnerschaften auf dem Zimmer. Und in einem Jahr teilte ich eben mit Markus Tisch und Bett. Das war einerseits sehr unterhaltsam, weil Markus ein äusserst talentierter Geschichtenerzähler ist. Andererseits etwas nervig, weil er als ehemaliger Karatekämpfer seiner Leidenschaft für Kampfsportarten auch vor unserem gemeinsamen TV-Gerät frönte. Und ich mich irgendwie nicht recht auf Roland Barthes‘ „Fragmente einer Sprache der Liebe“ konzentrieren konnte, während unter urtümlichem Gegrunze Lippen aufplatzten, Blut spritzte und in Eier getreten wurde.
Und wie üblich hatte nach etwa fünf Tagen mein Zimmergenosse unser Zuhause dauerhaft okkupiert. Das Schema war jedes Jahr das gleiche. Erst tobte sich Markus tagsüber bei unseren gewiss nicht ruhigen Radtouren aus. Und während sich alle anderen dann der Körperpflege widmeten und sich, gemütlich auf dem Bett fläzend , allmählich mental auf die harte Schlacht am warmen Bufett vorbereiteten, schnürte Markus umgehend die Laufschuhe, um seine 10 bis 15 Kilometer zu Fuss abzuspulen. Das ging auf Dauer natürlich niemals gut – spätestens nach einer Woche lag er fiebernd im Bett und war zu nichts mehr zu gebrauchen. Was ihn allerdings im Folgejahr nicht davon abhielt, das gleiche Programm wieder abzuspulen. Mit exakt dem gleichen Resultat.
In dem Jahr, in dem wir Tisch und Bett miteinander teilten, waren wir ein paar Tage später dran als die anderen, und als Markus endlich wieder fit war, waren unsere Teamgefährten alle bereits abgereist. So wären wir nur noch zu zweit durch die Gegend gezuckelt, hätten wir nicht in unserem Hotel die Bekanntschaft eines bekloppten Triathleten gemacht. Er hatte uns irgendwann, als wir noch eine grössere Gruppe waren, angequatscht. Wir sähen ziemlich schnell aus und er suche eine geeignete Gruppe, bei der er sich an seinem Regenerationstag in den Windschatten hängen könne. ‚Was für ein Aufschneider!‘ dachten wir. Trotzdem nahmen wir ihn mit, und ertrugen auch seine bescheuerten Sprüche und sein seltsames Verhalten. Er schien ganz froh darüber zu sein, mal etwas Gesellschaft zu haben. An den folgenden Tagen fuhr er allerdings wieder alleine. Einmal wegen des „höheren Trainingseffektes“, wie er betonte, aber hauptsächlich, weil der Narr Vollpension gebucht hatte. Deshalb konnte er immer nur kurze Touren machen, bevor er zum Mittagessen wieder im Hotel sein musste.
Markus nannte ihn endgültig nur noch den „Hirni“, nachdem er erfahren hatte, dass unser neuer Freund seine Laufeinheiten in sengender Sonne auf der Hauptstrasse immer an einer Grossbaustelle entlang absolvierte, obwohl wir den Albufera-Park fast vor der Haustür hatten (wo Markus sein Pensum abspulte) oder die Strandpromenade entlanglaufen konnten (was ich gelegentlich – SEHR gelegentlich – tat). Aber diese Strecke hatte er nun einmal exakt vermessen und nur exakte Daten lieferten ihm Anhaltspunkte über seine Form. Schliesslich war er nicht zum Vergnügen hier, sondern bereitete sich auf den Duathlon in Zofingen vor. Da gab es keine faulen Kompromisse.
Eines Tages bastelte ich im Fahrradkeller des Hotels ein wenig an meinem blauen Goldstück herum, als ein klickernder Freilauf die Ankunft eines anderen Radlers anzukündigen schien. Den bekam ich allerdings nicht zu Gesicht. Er schien im Gang vor der Tür angehalten zu haben, und kurz darauf hörte ich jemanden sich schnellen Schrittes entfernen. Wenig später kehrten die schnellen Schritte zurück, kurz darauf hörte man Schuhplatten in Pedale einklicken und ein Radler entfernte sich. Nachdem sich das dreimal wiederholt hatte ging ich doch mal nachschauen. Es war natürlich unser Powerman in spe, der „Wechseltraining“ machte. So etwa 15 bis 20 Wiederholungen wären angesagt. Er hatte halt einen echten Sockenschuss.
Es betrifft zwar nicht ihn, passt aber doch an diese Stelle: einmal war auch eine grössere Triathlon-Trainingsgruppe bei uns im Hotel. Ihre allabendlichen Trainingsbesprechungen und gymnastischen Übungen am Pool waren auch Realsatire pur. Am besten war aber, als ich einmal hinter einem sehr nett aussehenden Girl der Gruppe am Büffet anstand. Mit den Worten „Wie geht’s denn so?“ wollte ich ein etwas näheres Kennenlernen einleiten und mich eventuell im Eiscafe Monaco mit ihr verabreden. Allerdings wurde meine harmlose Frage etwas zu ausführlich beantwortet. Nach einem mehrminütigen Vortrag, von dem mir im wesentlichen die Worte „Fettverbrennungszone“, „Rekom“ und „anaerobe Schwelle“ im Gedächtnis geblieben sind war mein Interesse an einer Fortsetzung der Unterhaltung jedenfalls deutlich abgeflaut.
Aber zurück zu unserem Zweikämpfer: Für Markus und mich stand noch eine grosse Deja – Valdemossa-Runde auf dem Programm, die mit knapp 200 Kilometern und vielen Hügeln sehr anstrengend zun werden versprach. Deshalb heuerten wir kurzerhand den Bekloppten dafür an, der auch prompt auf dem Hinweg brav den heftigen Gegenwind von uns fernhielt. So hätten wir beide entspannt die schöne Landschaft geniessen können, wäre uns nicht das schreckliche Quietschen der Kette unseres Domestiken auf die Nerven gegangen. Darauf angesprochen kam nur wieder sein Standardspruch: „Erhöht alles den Trainingseffekt!“ Er war halt irgendwie – anders.
Es gefiel ihm auch sichtlich, dass er wieder etwas Gesellschaft hatte. Zwar musste er zwei Flaschen wie uns im Windschatten mitschleppen, aber immerhin erhielt er von denen Bestätigung und Bewunderung für seine Leistungen. Das Gefeixe hinter seinem Rücken bekam er natürlich nicht mit. Ausserdem hatten wir intellektuelle Fähigkeiten in die Waagschale zu werfen: Erst übernahm ich auf spanisch die Bestellungen im Bäckerladen, und dann gab Markus im Kartäusergarten von Valdemossa einer Gruppe Franzosen in deren Landessprache Auskunft über uns und unsere Aktivitäten. Unser dritter Mann – mit sämtlichen Sprachen dieser Welt (inklusive der deutschen) eher auf Kriegsfuß stehend – staunte nicht schlecht über unsere polyglotte Weltläufigkeit. Seine anerkennenden Worte halfen ihm aber gar nichts mehr, als wir auf dem Rückweg unser gewohntes knallhartes Finale fuhren, ohne jede Rücksicht auf seine zuvor geleistete Arbeit. „Nur die Harten kommen in den Garten“ war unsere Antwort auf seine Beschwerde beim Abendessen. Womit wir gleichzeitig bewiesen, dass wir auch bei dämlichen Sprüchen jederzeit mit ihm mithalten konnten.
Die restlichen Tage gingen wir jedenfalls wieder getrennte Wege. Auf meinen Vorschlag hin starteten Markus und ich einen Ausflug nach Palma. Obwohl wir seit Jahren auf der Insel zu Gast waren hatten wir die Hauptstadt noch nie betreten. Sie lag zwar ganz am anderen Ende, aber 70 Kilometer sind doch eine eher läppische Distanz. Einmal hin, dort gemütlich Kaffee trinken und wieder zurück, lautete der Plan. Und der wurde auch lässig durchgeführt.
Etwas Sorge bereitete uns allerdings das Wetter. Von Sonnenschein am Start wechselte es über wolkig zu bedeckt und schliesslich völlig trübe. Aber wir erreichten die Kapitale trockenen Arsches, und erst als wir die „wunderhübsche“ Playa de Palma entlangrollten fing es an zu tropfen. Unter grauen Betonarkaden, wo sich bereits ein kleines Menschengrüppchen versammelt hatte, fanden auch wir Zuflucht.
Da sich die Leute aus unerfindlichen Gründen den zugigsten und kühlsten Winkel zum Unterstehen ausgesucht hatten hielt ich mich etwas abseits. Nicht so Markus, der gleich nähere Bekanntschaft mit zwei Grazien aus Jena geschlossen hatte. Er stellte mich als seinen Kollegen vor, und wir machten uns zu viert auf die Suche nach einem netten Cafe am Fuße der Kathedrale.
Ich fand die beiden Mädels jetzt nicht so wahnsinnig spannend, aber Markus war Feuer und Flamme. Besonders die dunkelhaarige hatte es ihm angetan – erst recht, nachdem er erfuhr, dass sie in einem Sportartikelladen in der Laufschuh-Abteilung arbeitete. Und sie wusste auch, was „Zofingen“ bedeutet, als wir ein paar lustige Geschichten über unseren abwesenden neuen Freund erzählten. Dennoch verlief die Konversation eher zäh, und da sich von Westen dunkle, wirklich SEHR dunkle, schwarze Wolken näherten bliesen wir zum Aufbruch. Die Laufschuh-Verkäuferin riss sich zum Abschied noch die Münzen unter den Nagel, die WIR als Trinkgeld deponiert hatten, und so zog auch Markus ein eindeutiges Resümee, als wir wieder auf dem Rad sassen: „Was für zwei selten dämliche Hühner!“
Aber viel Zeit zum Plaudern hatten wir nicht – die schwarzen Wolken kamen bedrohlich näher. Und so forderte der Tag, der eigentlich als Kaffeefahrt geplant war, doch wieder den ganzen Mann in einem auf 70 Kilometer verlängerten knallharten Finale.
Wir waren gut, wir waren schnell – aber wir waren nicht schnell genug. Plötzlich wurde es stockfinster und der Himmel öffnete seine Schleusen. Innerhalb kürzester Zeit war die Strasse überschwemmt und die Felgen unserer Räder verschwanden im Wasser. Das setzte die Bremskraft der Felgenkneifer doch erheblich herab, aber zu bremsen brauchten wir ohnehin nicht mehr. Ausser uns war keine Menschenseele mehr unterwegs. Eine seltsam tosende Stille hatte sich breitgemacht, und der Ozean, aus dem einst alles Leben entstand, schien nun alle Lebewesen verschluckt zu haben. Nur wir waren aus unerfindlichen Gründen verschont geblieben. Wir – und ein Bauer, der uns in einer Senke irgendwo zwischen Sineu und Muro mit seinem Eselskarren entgegenkam. Und direkt vor uns ein Wendemanöver in absolutem Zeitlupentempo unternahm, während wir mit knapp 70 Sachen und ohne funktionierende Bremsen auf ihn zurasten. Unser panisches Geschrei interpretierte er scheinbar als jauchzenden Gruss unter harten Regenmännern, jedenfalls winkte er uns grinsend zu, als wir so gerade eben die verbliebenen fünf Zentimeter freier Strasse zwischen Eselskarren und Strassenmäuerchen erwischten. Die tödlichen Blicke, die wir ihm zuwarfen, blieben wohl unter unseren Mirrorshades verborgen.
Zwischendurch hatten wir zwischen den dunklen Wassermassen kurzzeitig die Orientierung vwerloren, was Markus zu dem abartigen Vorschlag veranlasste, ich sollte doch mal die Karte aus der Plastiktüte in der Trikottasche hervorholen, um wieder auf Kurs zu kommen. Aber das kam überhaupt gar nicht in Frage. Schliesslich hatte ich sie nur leihweise von der Gedenkbibliothek überlassen bekommen, und bei dieser Sintflut wäre sie in Sekundenschnelle durchgeweicht und wieder Bestandteil der Natur geworden. Und schließlich erreichten wir auch so unsere Unterkunft, wo wie zum Hohn genau in dem Moment die Sonne durch die Wolken brach, als wir die Einfahrt zum Radkeller hinunterrollten.
Der Tag war zwar nicht so gemütlich verlaufen wie geplant, aber die Roadmap für den folgenden und letzten Tag auf der Insel wurde trotzdem nicht mehr modifiziert: neben einem touristischen Teil mit Begehung der Jungfrauen-Halbinsel sollten zum Abschluss noch ein paar harte Höhenmeter Richtung Tankstelle / Kloster Lluc gemacht werden. Allerdings unternahmen wir nur den ersten Teil gemeinsam. Die „Jungfrauen“ hatten wohl unsere Sinne vernebelt, so dass wir uns aus den Augen verloren hatten.
So machte ich mich solo über Pollença auf den Weg zum Kloster, um nach einem gemütlichen Cafe con leche die Abfahrt Richtung Campanet in Angriff zu nehmen. Das schmale Bergsträßchen war erheblich belebter, als ich es in Erinnerung hatte. Beiderseits der Strasse sassen Familien beim Picknick und waren bester Laune. Etwa ein Feiertag? Oder die normale Sonntagsbeschäftigung der Mallorquiner?, waren meine Überlegungen, die jedoch kurze Zeit später ad absurdum geführt wurden. Von unten näherte sich ein eklig-insektenhaftes Geräusch, das schnell lauter wurde und sich als Rennwagen entpuppte, vor dem ich gerade noch ins Gebüsch fliehen konnte. Ich war mitten ins alljährliche grosse Bergrennen geraten, und es hatte oben nicht den geringsten Hinweis oder gar Absperrungen gegeben. Ganz anders unten am Start, wie Markus später berichtete. Er hatte den umgekehrten Weg wie ich nehmen wollen, war aber von Polizei und Streckenposten daran gehindert worden. So hatte er nur ein paar weitgehend flache Kilometer abgespult, während für mich der letzte Trainingslager-Tag durch die irgendwie inkonsequente mallorquinische Organisationskunst beinahe auch der letzte überhaupt geworden wäre.
Free Falling
Eine organisierte achttägige Radreise in die Schweizer Alpen hatte ich als Initialzündung zur Gründung unseres Radler-Teams bereits erwähnt. Während dieser Reise trugen sich allerdings noch weitere lustige (und zum Teil erschreckende) Begebenheiten zu, die ich dem geneigten Leser nicht vorenthalten will. Eine zentrale Rolle spielt dabei Jim aus Lübeck.
Jim war so eine Art Dario Pieri der Hobbyfahrer. Angeblich hatte er früher 108 Kilo gewogen. Davon waren vielleicht noch 80 übrig geblieben, nachdem er mit dem Radtraining angefangen hatte. Im übrigen war er ein Sprücheklopfer der etwas derberen Art. Manchmal riefen seine Bemerkungen am Abendmahl-Tisch nur betretenes Schweigen hervor, manchmal war es hingegen sehr lustig.
Sehr lustig war auch, was er sich auf der Königsetappe „Rund um den Dammastock“ geleistet hat: Die Etappe führte von Andermatt über die Pässe Susten, Grimsel und Furka zurück nach Andermatt – eine Herausforderung der besonderen Art (mit 3600 Höhenmetern auf nur 125 km Strecke), die wir aber alle gut bewältigten. In Gletsch, am Fuße des Rhonegletschers legten wir ein wohlverdientes Päuschen ein. Während sich alle übrigen Mitfahrer mit Kaffee und Kuchen begnügten, hatte Jim tierischen Kohldampf (ob das Pieri auch immer so ging?) und orderte eine grosse Portion Spaghetti, was seine Brieftasche in dem etwas teuren Auslugslokal (mit Blick auf den Gletscher) in der ohnehin nicht gerade billigen Schweiz um einen ordentlichen Franken-Betrag erleichterte.
Nachdem wir wieder unsere Räder bestiegen hatten, begann sofort der Aufstieg zum 2431 Meter hohen Furkapass. Wir waren noch nicht lange wieder unterwegs, da war ein lautes, würgendes Geräusch zu vernehmen – und die teuren Spaghetti waren weitgehend unverdaut auf der Straße gelandet. Dumm gelaufen!
Aber zurück zu mir. Wie kam ich denn jetzt bloss auf Jim?
Ach ja – am nächsten Tag stand eine fast ebenso schwere Etappe über den Furka (diesmal von der anderen Seite), den Nufenen und den Gotthard (wieder zurück nach Andermatt) auf dem Programm. Nach gemütlichem Päuschen in Airolo ergab es sich, dass ich den Aufstieg auf der alten St.-Gotthard-Passtraße im Duett mit Jim unternahm. Locker miteinander plaudernd erfuhr ich, wie sehr er Bergfahrten liebt, und wie sehr er den Wind, der bei ihm an der Küste immer bläst, hasst. Da sich diese Liebe jedoch nicht unbedingt in seiner Leistung niederschlug, ließ ich ihn alsbald, meinen eigenen Rhythmus fahrend, in den Kehren der Tremola zurück.
Die Besonderheit dieses Anstiegs ist zum einen, dass der Straßenbelag nicht aus Asphalt, sondern aus Kleinpflaster besteht. Bergauf ist das kein Problem, bergab sollte man lieber die neue Strasse wählen. (Deren Existenz, und die der Autobahn, sorgen auch dafür, dass die Tremola praktisch vollkommen autofrei ist.) Zum anderen sind die meisten Kehren ausgesprochen kurz – meiner Erinnerung nach kaum länger als 50 Meter, aber da mag mir das Gedächtnis auch einen Streich spielen. Jedenfalls kurvte ich schon nach kurzer Zeit zwei oder drei „Etagen“ über Jim, als plötzlich ein markerschütterndes Brüllen und Fluchen aus seiner Kehle zu mir nach oben drang. Was war geschehen? Hatte er Stress mit dem Autofahrer bekommen, der mich kurz vorher talwärts fahrend passiert hatte? Womöglich gar ein Crash? Sollte ich warten oder gar umkehren?
Da ich ihn aber permanent vor sich hinschimpfen hörte, und irgendwann die Worte „So eine Scheiße!“ und „Ich hasse Berge!“ an mein Ohr drangen, schien wohl nichts besonderes vorgefallen zu sein. Er hatte anscheinend nur seine Ansichten über das Bergfahren in kürzester Zeit um 180° gewendet.
Oben angekommen gesellte ich mich zu unseren Gefährten, und während ich mich kleidungstechnisch auf die Abfahrt vorbereitete, kam auch Jim, immer noch vor sich hinfluchend, angeradelt. Alles Rufen und Winken unsererseits nützte nichts: Entweder ignorierte er uns vorsätzlich, oder er hat uns vor lauter Wut tatsächlich nicht bemerkt. Jedenfalls machte er sich ohne anzuhalten auf den Weg bergab – und steuerte dabei zielstrebig den gepflasterten Streckenabschnitt an. ‚Viel Vergnügen, Jim!‘ wünschte ich ihm in Gedanken.
Wir anderen nahmen die asphaltierte Strasse unter die Räder – und es wurde die bis dato berauschendste und schnellste Abfahrt meines Lebens. Reger Autoverkehr zwang zwar zur Konzentration, und zahlreiche, zumeist holländische Wohnmobile und -wagen verhinderten eine perfekte Sause auf der Ideallinie. Dennoch standen am Ende immerhin 89.3 km/h als Maximalwert auf dem Tacho. Der höchste Wert seit Beginn meiner Aufzeichnungen.
Jim bruttelte beim Abendessen immer noch: „Was für ein dämliches ewiges Bergfahren! Und was für eine Drecksabfahrt noch dazu!“ Unsere schwärmerischen Erzählungen von der geilen Abfahrt konnten seinen Zorn irgendwie auch nicht abmildern.
Der Maximalspeed vom Gotthard sollte lange Jahre mein persönlicher Rekord bleiben. Irgendwann habe ich ihn unabsichtlich und unerwartet gebrochen: Vom Kaiserstuhl führte eine lange gerade Strasse hinunter Richtung Freiburg, und ich merkte schon, dass wir ziemlich schnell unterwegs waren. Beim Überfahren eines etwas hochstehenden Gullydeckels fürchtete ich, dass es mich gleich zerreisst. Dennoch waren die 93.6 km/h auf dem Display eine Überraschung – so schnell hatte es sich dann auch wieder nicht angefühlt.
Vor nicht allzu langer Zeit nun fasste ich den Plan, diese persönliche Bestmarke noch einmal anzugehen. Bevor ich endgültig zu alt bin und die Reflexe in dem Maße nachlassen, wie die Furcht steigt, wollte ich noch einmal austesten, was geht.
Es war der letzte Tag eines Urlaubes im Schwarzwald. Ich hatte Quartier im Kinzigtal bezogen, von wo ich per Rad ohnehin nach Freiburg fahren musste, um mein dort deponiertes Auto abzuholen.
Ich hatte mir extra eine Roadmap zusammengestellt: die schönste Strecke zum Kaiserstuhl, dann die dortige RTF-Strecke abfahren und schließlich über die Speedstrecke nach Bötzingen Richtung Breisgaumetropole.
Frohgemut bestieg ich nach dem Frühstück mein Rennrad und kurbelte locker die Kinzig entlang. Beim ersten steileren Hügelchen nach Fischerbach schaltete ich hoch – und auf ein krachendes Geräusch im Getriebe folgte ein Tritt ins Leere. Beim Blick nach unten sah ich meine Kette auf der Strasse liegen.
Ich verfluchte meinen vietnamesischen Mechaniker. „Brauchmaa kein teures Spezialwerkzeug. Ich machediesooo,“ war sein Kommentar zur Montage der damals noch relativ neu eingeführten Campagnolo 10fach gewesen. Das Resultat hielt ich nun in den Händen.
Zwar gelang es mir, die Kette wieder so zusammenzustecken, dass ich zumindest immer eine halbe Pedalumdrehung machen konnte, bevor ich wieder rückwärts treten musste (die „Schnittstelle“ war etwas zu breit, um noch durch den Schaltungskäfig zu passen), so dass mir wenigstens ein vier Kilometer langer Fußmarsch auf Look-Platten erspart blieb. Allerdings hatten beide Fahrradhändler in dem kleinen Städtchen keinen Ersatz auf Lager. Und das scheinbar unabdingbare Spezialwerkzeug schon gleich gar nicht. („Zehnfach-Kettä? So ebbes gibt’s doch gar net.“)
Glück im Unglück, dass mich ein befreundeter Taxifahrer samt meinem zweirädrigen Begleiter nach Freiburg mitnehmen konnte. Dort waren Kauf und Montage einer Zehnfach-Kette kein Problem, aber radtechnisch war der Tag gelaufen. Es sollte wohl nicht sein. Eine höhere Macht (der Vernunft?) hatte meinen Rekordversuch schon im Ansatz kläglich scheitern lassen. Und höhere Mächte sollte man nicht herausfordern, oder?
Wie ich wegen Jaan Kirsipuu beinahe verhaftet worden wäre…
Für jemanden wie mich, der nichts lieber tut, als Rennrad zu fahren oder anderen dabei zuzusehen, gibt es natürlich nichts größeres, als per Rad einen Trip zur ‚Tour de France‘ zu unternehmen. Und dabei, noch möglichst zeitnah zu den Profis, möglichst große Teile der Originalstrecke abzufahren. Idealerweise auf großen Bergetappen.
Zuletzt habe ich diese Chance im Juli 2005 wahrgenommen. Dank freundschaftlicher Beziehungen in den Schwarzwald war die Unterkunftsfrage problemlos geklärt. Die erste Etappe der damaligen Tour mit einem halbwegs richtigen Berg wartete auf mich: von Pforzheim über den Col de la Schlucht nach Gerardmer. Es sollte eine denkwürdige Etappe werden – der Godfather of the Bunch hatte seinen eisernen Griff gelockert und seinen Roboterhorden einen freien Tag gegönnt. Die Jungs aus den feindlichen Gangs durften auch einmal spielen, und für einen kurzen Moment schien es, als ob das verbrecherische Regime des Hodenlosen ins Wanken geraten könnte.
Eine trügerische Hoffnung, aber von all dem ahnte ich noch nichts, als ich mich frühmorgens auf den Weg machte. Ich startete alleine – alle Personen, mit denen ich irgendwie vage verabredet gewesen war, hatten aufgrund unsicherer Witterungslage einen Rückzieher gemacht oder sich gar nicht erst rückgemeldet. Wenigstens konnte ich dadurch mein eigenes, gemütliches Tempo fahren, ohne Verabredungstermine im Hinterkopf und bei optimaler Krafteinteilung. Ich rechnete mit etwa 260 Kilometern Strecke hin und zurück – da darf man nicht gleich auf den ersten Metern Stoff geben, besonders wenn darunter die beiden 17%-Kehren hinter Welschensteinach sind.
Am Streitberg zieht dann jedoch ein Rennradler locker grüßend an mir vorbei. Gleich schäme ich mich etwas für mein Schneckentempo und es juckt mächtig in den Beinen, aber ich kann mich beherrschen. Zumal der Kollege dann die Abzweigung Richtung Sexau nimmt. Nicht meine Richtung, ich muss nach Fronkroisch. Und siehe da: Kurz darauf klingelt mein Mobiltelefon und vermeldet: „Herzlich willkommen in Frankreich!“ – ‚Oh, dankeschön für die nette Begrüßung, von Grenzen ist ja in der Schengenzeit wirklich gar nichts mehr zu bemerken‘, denke ich überrascht. Aber da war mein Provider wohl etwas zu voreilig.
Denn erst kurz darauf biege ich vor Kenzingen auf die Originalstrecke ein. Es ist noch früher Vormittag, dennoch ist die Straße bereits von zahlreichen Zuschauern gesäumt. Viele davon leuchten krebsrot – ob von der Sonne oder ihrem Alkoholkonsum lässt sich auf die Schnelle nicht eruieren. Aber egal, viele jubeln mir zu – und automatisch wird der Tritt schneller. Bald kommen auch die ersten Hinweisschilder auf die Sprintwertung in Kenzingen, da muss ich mich doch fürs Publikum ein wenig ins Zeug legen. In hohem Tempo fliege ich über die Linie, und ein Quick-Step-Fahrer guckt ziemlich verdutzt, als ich ihm die sichergeglaubten sechs Punkte vor der Nase wegschnappe.
Ich hatte mir extra eine Roadmap gebastelt und ausgedruckt, aber das erwies sich jetzt als vollkommen überflüssig. Ich brauchte einfach nur noch den schwarzen Pfeilen auf gelbem Grund zu folgen, die die ‚Société du Tour de France‘ extra für mich überall angebracht hatte. Super Service, kann man nicht meckern. Und nicht nur jeder Richtungswechsel wird perfekt angezeigt, sondern auch jeder Kreisverkehr und jede Engstelle, wie die Durchfahrt durch einen engen Torbogen in (Endingen? Königschaffhausen? Sasbach? Scheiße, hab ich vergessen.)
Erst danach geht es über den Rhein nach Frankreich, und auch dort ist schon mächtig was los. (Unter anderem parkt nach einem Kreisverkehr die halbe Werbekolonne, die auf den Abstecher nach Deutschland verzichtet hatte.) Die Atmosphäre kommt mir aber etwas weniger prollig und dafür familiärer vor, als in Deutschland. Oder bilde ich mir das nur ein? Was soll’s, ich bin bester Laune, grüße jeden Gendarmen, der die Ausfahrt von einem Feldweg bewacht, und werde von den meisten Zuschauern bejubelt und angefeuert. Zur Feier des Tages habe ich mein geliebtes „Leader-der-Tour-de-France-Kombinationswertung“-Trikot übergestreift, womit ich bei den Kennern im Publikum ordentlich Eindruck mache. „Bravo!“ und „Bonne chance!“ schallt es mir allerorten entgegen. Ich fühle mich wie im siebten Himmel, und hielte mir jetzt das französische Fernsehen ein Mikrofon unter die Nase, ich würde unter Tränen nur noch stammeln: „Vive le tour! Vive le vélo! Vive Jean Marie Leblanc! Vive la France!“
Den Beifall habe ich mir aber auch deshalb redlich verdient, weil mein „Renntempo“ inzwischen merklich angezogen hat. Irgendwie bringe ich es nicht, vor den Massen daherzulullern. Dass ich erst einen geringen Teil meines Tagespensums hinter mir habe und das schwerste, der Col, noch vor mir liegt interessiert mich jedoch nicht. Auch daran, dass es bei der Heimreise mit dem Tageslicht etwas eng werden könnte, verschwende ich vorerst keinen Gedanken und gebe munter Gas. Inzwischen sind auch Dutzende Gruppen anderer Rennradler unterwegs, die meisten davon langsamer als ich. Da wurmt es mich um so mehr, dass kurz vor der nächsten Sprintwertung ein schwergewichtiger Reiseradler und sein erheblich schmalerer Kompagnon an mir vorbeizischen. ‚Verdammte Kacke! Die schnappen mir die Punkte weg!‘ rumort es in meinem endorphinumnebelten Hirn, und der erste Impuls ist: ‚Nachsetzen!‘ Dann dringt aber doch noch einmal der klare Verstand an die Oberfläche, und ich lasse die beiden ziehen.
Sie kommen ohnehin nicht sehr weit. Am Anstieg zu einem Weinberg sehe ich den Dicken an seinem hinteren Laufrad herumbasteln, einen Kilometer weiter steht sein Kumpel etwas verloren in der Gegend und wartet. Ich informiere ihn über das Missgeschick des Kollegen und kurbele munter weiter. Die sich häufenden Schilder „Route barré dé13 heures“ ignoriere und verdränge ich, obwohl es mittlerweile schon bedrohlich nahe an 13 Uhr ist. Aber ich hoffe, dass das in erster Linie für den Autoverkehr gilt, und außerdem habe ich mir vorher genau die Marschtabelle mit der Ankunft der Werbekarawane angeguckt. Danach liege ich noch sehr gut in der Zeit.
Zwischenzeitlich hat sich noch einmal mein Mobiltelefon gemeldet. Mein Bruder und ein Kumpel lassen wissen, dass sie das Feld an der Sprintwertung in Kenzingen abwarten wollen, um sich dann per Auto auf Nebenstrecken Richtung Col zu bewegen. Viel Vergnügen, kann ich da nur wünschen. Der Plan erscheint mir etwas unrealistisch. Immerhin bemerke ich bei der Gelegenheit, dass im Display nicht mehr „E-Plus“, sondern „Bouygues Telecom“ steht. Passt ja irgendwie zum Anlass, und erst recht zu den Millionen „Allez Thomas!“-, „Bravo Thomas!“- oder „Hopp Thomas!“-Schriften auf Strasse oder Plakaten, die dem Lokalhelden Voeckler gelten. Dass sich mein Bruder Thomas das entgehen lässt – selber schuld!
Am Ortsausgang von Turkheim tauchen erste Schwierigkeiten mit der Ordnungsmacht auf. Ein, wie ich finde, etwas übereifriger Gendarm zwingt mich zum Absteigen und Schieben auf dem Bürgersteig. ‚Blödmann…‘, denke ich, und schwinge mich hinter der nächsten Kurve wieder aufs Rad. Ein paar Kilometer geht es wieder gut, dann stellt sich vor Munster wieder so ein (diesmal weibliches) Exemplar in den Weg. In rasantem Tempo redet sie auf mich ein, aber noch bevor ich zusammen habe, was „Wie war das nochmal im Mittelteil?“ auf französisch heisst, sind zwei frankophone Rennradler zur Stelle und erhalten von ihr Tipps für den weiteren Weg. Kurzerhand schließe ich mich den beiden an.
Steil geht es auf asphaltierten Feldwegen hinauf Richtung Wald. Bald sind wir von allen Seiten von Weidezäunen umschlossen. Ein Gartengrundstück scheint den einzigen Ausweg zu bieten, aber unser Vorhaben wird von zwei böse kläffenden Wachhunden schon im Ansatz vereitelt. Zum Glück erscheint sofort deren Besitzer und ruft sie zur Ordnung. Auf höfliches Anfragen erlaubt er uns freundlich die Durchquerung seines Grundstückes, wo sich zwei Handvoll Personen zu einer kleinen Tour-Fête versammelt haben. Mir unseren schicken Bikes ziehen wir ihre bewundernden Blicke auf uns, und brachten ihnen dafür etwas Authentizität in ihre Feier. So haben alle etwas davon.
Am unteren Ende des Grundstückes angekommen, müssen wir konstatieren: Die ganze Aktion hat uns einen Geländegewinn von etwa dreihundert Metern eingebracht. Wenig Ertrag für viel Aufwand – ab jetzt hilft wohl nur noch schieben. Mein aktualisierter Plan lautet: Das Städtchen möglichst schnell zu Fuß durchqueren, danach wird die Zahl der Ordnungshüter bestimmt stark nachlassen und wieder einigermassen problemfreies Fahren ermöglichen.
Allerdings ist dieser Plan durch die Massen von Menschen, die die scheinbar einzige Durchfahrts-Straße beidseitig bevölkern, nur sehr schwer in die Tat umzusetzen. Nachdem ich es mit eisernem Willen und Durchsetzungskraft ungefähr bis zur Ortsmitte geschafft habe resigniere ich: keinen Bock mehr auf rumschubsen und wandern auf Look-Platten. Vor einem ‚Hypermarché‘ aufgebaute Tische und Bänke werden für die nächsten Stunden mein Zuhause sein.
Praktischerweise ist dort auch ein Fernseher aufgebaut, so dass ich über das aktuelle Renngeschehen bestens im Bilde bin. Außerdem hat eine Rennrad-Gruppe aus Köln ihren Fuhrpark dort abgestellt, und zwischen deren teuren Maschinchen fällt mein hübsches Trek nicht nach oben aus dem Rahmen. Keine Gefahr, dass es als erstes gemopst wird, während ich mich im Supermarkt versorge, zudem hat immer einer der Jecken einen Blick darauf.
Merkwürdige Getränke stehen in den Regalen des Ladens, die ich bei uns noch nie entdeckt habe. Ich entscheide mich dafür, einmal „Aloe-Vera-Wasser mit Vanillegeschmack“ auszuprobieren. Leider schmeckt es genau so, wie es sich anhört. Aber meine Laune kann mir das beim Relaxen in der Sonne auch nicht verderben.
Schon bald wird auch klar, warum die Straßen schon so frühzeitig gesperrt werden: Noch weit vor der Werbekarawane schlängeln sich die luxuriösen Team-Busse bergan. Das hatte ich von früheren Tour-Besuchen so nicht in Erinnerung, und ich denke, dass diese neue Erfindung eigentlich nicht nötig wäre, wenn man eine richtige Rundfahrt-Strecke ohne diese vielen Transfers zusammenbasteln würde. Aber ich bin halt hoffnungslos altmodisch.
Die Schlacht um vollkommen nutzlose Giveaways spare ich mir diesmal komplett und beobachte das alberne Karawanen-Spektakel von meinem Biertisch aus sicherer Entfernung . Und endlich kündigt Hubschrauber-Geknatter das eigentliche Ereignis an. Tête de la course rast eine sechsköpfige Gruppe bergan, deren Zusammensetzung, ich muss es leider einräumen, ich mittlerweile komplett vergessen habe. Aber wenigstens rollt die große weiße Hoffnung im Kampf gegen das Böse, der Sohn eines gewissen Rudy, nur im Zentimeterabstand an mir vorbei. Acht Jahre zuvor hatte er unweit von hier, ganz gegen seine damalige Angewohnheit, die linke Straßenseite gewählt, und nur seine gelbe Oberbekleidung schimmerte damals schemenhaft durch das Feld. Ohne meine engste Unterstützung geriet er damals auf der legendären „Quäl dich, du Sau!“-Etappe in arge Schwierigkeiten. Diesmal drang jedoch mein aufmunterndes Plärren in sein Ohr.
Dafür, dass es einen Berg hinauf ging, war das Spektakel ziemlich schnell vorbei. Aber soll mir auch recht sein, denn Stefan und Thomas haben sich mittlerweile telefonisch gemeldet. Sie sind mit dem Auto nur bis Turkheim gekommen, dort gab es für sie kein Weiterkommen mehr. Das Feld ist bei ihnen schon länger durch, und da sie am heutigen Tage noch keinen Meter mit dem Rad gefahren sind drängen sie auf mein baldiges Erscheinen, um noch eine kleine gemeinsame Runde drehen zu können. Also schiebe ich langsam mal nach unten. Es ist kein Verkehr mehr, aber die Ordnungshüter sorgen dennoch dafür, dass sich niemand auf die Strasse begibt. Auch das kenne ich noch von früheren TdF-Besuchen – das scheinbare Festhalten an einem vorgegebenen Zeitplan, egal ob die Renn-Kolonne schon lange durch ist oder nicht.
Das langsame Gehen zu Fuß nervt alsbald. Ich schwinge mich in den Sattel und rolle am rechten Fahrbahnrand langsam talwärts. Ein Gendarm zwingt mich zum Absteigen – ohne Gegenwehr komme ich dem Befehl nach und marschiere aus seinem Blickfeld, um mich anschließend wieder aufs Rad zu setzen. So geht das Spielchen ein paar mal, bis ich am Ortsende angekommen bin. Ab jetzt wird es ja wohl einfacher gehen, denke ich, und lasse es rollen.
Aber auch außerhalb des Ortes sind noch zahlreiche Polizisten stationiert, die mich mit herrischen Gesten zum Absteigen bewegen wollen. Ich habe es allmählich aber wirklich eilig und tue so, als hätte ich nichts bemerkt. Schrille Töne aus einer Trillerpfeife und laute Rufe bewirken aber ein gewisses Umdenken bei mir, mit roten Köpfen rennt eine halbe Hundertschaft auf mich zu. (Na ja, ich gebe zu, dass es nur drei waren.) Deren Anführer staucht mich gewaltig zusammen, er sieht sehr, sehr böse aus – so, als ob er heute mal keinen Frosch, sondern mich auffressen will. Eingeschüchtert sage ich zu allem Ja und Amen, und bemerke nebenbei, dass tatsächlich noch drei Rennfahrer des Weges geschlichen kommen. Auf Anhieb erkenne ich Jaan Kirsipuu, in Begleitung des dicken Esten befinden sich ein R2D2- und ein ETA-Radler, deren Identität ich in der Hektik nicht klären kann.
Da hatte ich in meinem ganzen Aufbruch- und Zusammenpack-Stress tatsächlich nicht bemerkt, dass der Besenwagen noch gar nicht durch war. Alles mein Fehler, und ich finde mich plötzlich auch ganz doof. Trotzdem würde ich allmählich ganz gerne mal weiter, aber ich bin nach wie vor von den Flics umringt, und geschäftiger Funkverkehr mit irgendwelchen übergeordneten Stellen lässt mich nichts gutes ahnen. Aber ich komme glimpflich davon. Der Chef des Trios hat scheinbar nur Anweisung bekommen, mir noch einmal ordentlich ins Gewissen zu plärren. Dann lassen sie von mir ab. Die blaue Minna, die aus einer Seitenstrasse angerumpelt kommt, ist wohl doch nicht für mich bestimmt. Uff!
(Beim späteren, viel späteren Studium der Ergebnisliste erfahre ich schliesslich, dass nach dem Kirsipuu-Grüppchen noch der saubere „Speed! Speed!“-Maniac Zabriskie das Ziel erreicht. Den hatte ich in der ganzen Hektik überhaupt nicht mehr wahrgenommen.)
Kleinlaut und zerknirscht mache ich mich vom Acker und bin froh, dass ich nach kurzer Zeit von der Rennstrecke abbiegen und die Nationalstraße benutzen kann. Nach einigen Missverständnissen über den Treffpunkt finde ich doch noch die beiden Jungs, und gemeinsam nehmen wir noch einen benachbarten Berg mit einem sieben Kilometer langen Anstieg unter die schmalen Reifen. Obwohl das Tempo mäßig ist (Wir müssen schließlich Rücksicht auf meinen Bruder nehmen. Als Babys waren wir uns wie aus dem Gesicht geschnitten -– nur dass ich etwa doppelt so dick war wie er. Heutzutage ist es genau umgekehrt.), fährt mir irgendwann ein Krampf in den Oberschenkel. Das stundenlange Herumstehen scheint mir nicht bekommen zu sein.
Auf dem Gipfel lasse ich mich noch zu einem Abstecher in ein nettes Gartenlokal nieder. Meine Bedenken, dass ich den Rückweg nicht mehr bei Tageslicht schaffe, werden mit dem Argument, dass im Auto auch noch Platz für mich und mein Rad wäre, beiseite gewischt. Da uns zunächst nicht mehr einfällt, was „Radler“ auf französisch heißt, bestellen wir „bierre avec limonade“, erst danach erinnern wir uns, dass es dort wohl ‚panache‘ heißt. Kurzerhand werde ich, nach Rücksprache mit den Gastgebern, noch zu einer abendlichen Grillfête in Freiburg eingeladen. Auch für Dusche, Zivilklamotten und Übernachtung ist gesorgt. Und so machen wir uns beschwingt auf die Abfahrt. Nur selten habe ich die Kehren so schwungvoll und locker genommen – vielleicht wäre ein Bierchen auf dem Gipfel auch für Personen ratsam, die ein wenig unter Abfahrts-Angst leiden.
Und so klingt ein erlebnisreicher Tag feucht-fröhlich aus. Der geplante Abstecher zum Ballon d’Alsace am nächsten Tag fällt spätem Aufstehen und einer nicht geplanten Rückkehr nach Freiburg zum Opfer. (Ich hatte meinen Geldbeutel in der Tasche der geliehenen Hose vergessen. Ich kam jedoch zu spät – er war von der Gastgeberin bereits gewaschen und geschleudert worden.)
Die verf***te 13
Samstag in der Frühe, janz weit draussen in Berlin-Mahlsdorf:: Joaquin erscheint überpünktlich am Start des Oderbruch-Marathons. Nach einer Saison mit vielen Tiefen und krankheitsbedingt keiner konstanten Form wagt er sich erst zum zweiten Mal in diesem Jahr an eine >200km-Strecke. Nachdem die letzten Wochen endlich auch echtes Joaquin-Wetter war und einige Trainingskilometer abgespult wurden ist er einigermassen zuversichtlich. Die Wetterprognosen sind gut: warm und sonnig, erst gegen Abend sollen Gewitter aufziehen.. Da sich die Wetterfrösche aber gerne mal um ein paar Stunden vertun ist flottes Tempo angesagt. Avisierte 230 km wären bei 30er Schnitt mit Pausen ca. 8 Stunden, mithin 16 Uhr. Das sollte reichen, um trockenen Arsches ins Ziel zu kommen.
Etwas irritiert ist er schon, dass nur eine Hand voll anderer Hansel die Einschreibeformalitäten erledigt – aber es ist ja noch sehr zeitig. Als nächstes will ihm der Opa hinterm Tresen unbedingt die Startnummer 13 andrehen – kommt gar nicht in die Tüte, schliesslich gabs dieses Jahr schon genug schlechte Omen, die sich auch erfüllt haben. Ein Weilchen diskutiert, aber bevor endgültig schlechte Laune aufkommt nimmt er eine sich einmischende junge Frau beim Wort (“Das wird heute Ihre Glücksnummer sein!”) und fügt sich in sein Schicksal. Als kleinen Protest und auf Anregung von Matze Kessler bringt er die Startnummer allerdings auf dem Kopf stehend an – schliesslich will man sich hinterher keine Vorwürfe machen.
Punkt 8 Uhr haben sich doch etwa 35 Mann (und wenn er richtig geguckt hat eine Frau) am Start versammelt und machen sich auf den Weg. Entspannt und in Zweierreihe geht es durch Suburbia. Hinter Hönow wird erstmals Fahrt aufgenommen. Das Tempo liegt bei etwa 33 km/h – eigentlich genau richtig zum warm werden. Die Abwechslungen erfolgen regelmässig, alsbald fährt auch Joaquin in der ersten Reihe. Sein Nebenmann sieht im ärmellosen Trikot, aber dafür mit Armlingen etwas gewöhnungsbedürftig aus und beschleunigt auch sofort auf 36. Da hat er allerdings nicht mit Joaquins Sturheit gerechnet. Der will sich erst mal richtig warm und die Beine locker fahren, deshalb hat er noch gar keine Lust, aufs grosse Blatt zu schalten. Als Kompromiss springt schliesslich Tempo 34 heraus, wobei J. ganz schön kurbeln muss – zwischen 111 und 117 Umdrehungen pro Minute verraten gelegentliche Blicke aufs Tretometer – der Epo-Ami könnte neidisch werden!
Auf einem längeren Pavé-Sektor in Altlandsberg zerlegt sich das Peleton in seine Einzelteile. J. (unterwegs mit Oldtimer-Stahlrahmen und traditionellen 36-Speichen-Laufrädern) düst mit hohem Tempo über die Katzenköpfe, manche jüngeren Menschen mit Super-“stiffness-to-weight”-Rahmen und modernsten Carbon-Laufrädern geraten etwas ins Hintertreffen. Und wo jetzt jeder schon mal ein wenig am Limit gefahren ist gibt es auch nach der Regruppierung des Feldes keine Gnade mehr. 36, 38. 40, 42 – es sind nicht die Lottozahlen, die das Tacho-Display anzeigt! ‘Wie unvernünftig!’ und ‘wo soll das bloss enden?’ meldet sich die Stimme der Vernunft in joaquins Hinterstübchen. Als Resultat dieser Überlegungen beteiligt er sich munter an der üblen Tempobolzerei. Nach getaner Arbeit bemerkt er beim Zurückfallenlassen bereits erste Löcher im Feld, die Schwächeren verweigern die Führungsarbeit, die Formation gerät Durcheinander.
Allerdings sinkt das Tempo auch nur unwesentlich, als sich die ersten Hügel der Märkischen Schweiz in den Weg stellen. Joaquin (traditionell mit einer kleinen Bergschwäche ausgestattet, die sich diese Saison plötzlich sehr stark ausgeweitet hat), der eben noch das Tempo gemacht und dabei alles gegeben hat, muss vor sich ein kleines Loch reissen lassen. Der Wille befiehlt ‘Dranbleiben!’, doch die Beine verweigern den Befehl. Zum Glück erbarmt sich ein anderer Fahrer und schliesst die Lücke, aber J. ist jetzt leicht angeknockt. Als über die nächste Welle wieder mit Tempo 40 drübergebügelt wird beginnt das Spiel erneut. Am übernächsten Hügel trennt sich dann endgültig die Spreu vom Weizen.
Es ist jetzt eine sehr unruhige Phase des “Rennens” – einige Fahrer aus der Spitze haben sich übernommen und kommen zurück, hinten haben andere ihren Rhythmus gefunden und streben nach vorne. Joaquin muss erst mal durchschnaufen, nimmt einen Gang raus und kurbelt solo hinter der Spitzengruppe her. Während er noch so vor sich hinlamentiert (“war ja klar, dass das mit der Startnummer heute nicht hinhauen kann!”) schliessen von hinten zwei Fahrer auf, und ohne grosse Worte der Verständigung wird die “Aktion Belgischer Kreisel” gestartet. Dabei nimmt die Kleingruppe wieder ganz schön Fahrt auf, allerdings ist es noch ein kommen und Gehen: zurückgefallene Fahrer aus der Spitzengruppe werden integriert, angeschlagene an Hügeln hinten ausgespuckt – Darwinismus pur!
(Bis hierher stand Joaquin aufgrund diverser Umstände etwas neben sich, doch ab jetzt bin ich ganz bei mir.)
Bei km 55 dann der erste Kontrollpunkt – von der Spitzengruppe schon keine Spur mehr! Die sind quasi “durchgefahren”, aber wir halten an. Getränke und Bananen werden aufgenommen, Windwesten ausgezogen und verstaut und schliesslich machen wir uns zu sechst wieder auf den Weg. Praktisch die ideale Gruppengrösse für zügiges Fortkommen, und bis auf einen Kollegen harmoniert das Grüppchen auch sehr gut. Wir nähern uns der Oder und Polen, die Landschaft wird völlig flach, die Strassen schlechter. Mein Nebenmann beschwert sich, dass er auf dieser Rüttelpiste keinen richtigen Rhythmus findet und dass ihm der eine Kollege auf den Wecker geht. Ich denke ähnlich, und da wir hinter Neuhardenberg Seitenwind haben schleichen sich fiese Gedanken ein. Man könnte ihn wenn er hinten fährt doch irgendwie auf die Windkante nehmen und… Schnell die unguten Gedanken verscheuchen, ich will heute mal kein Unmensch sein.
In Sophiental biegen wir Richtung Norden. Der Wind kommt jetzt direkt von vorne, wir reihen uns einzeln hintereinander und machen weiterhin Tempo. Alsbald erreichen wir die Oder samt vorgelagertem Deich. Oben auf dem Deich oder unten fahren ist die Frage, die logischerweise mit “unten” beantwortet wird. Schliesslich wollen wir nicht Slalom fahren um Ausflügler mit Hund und Kind. Es geht um die Kurve, jemand ruft “Steine!” Zu spät, ich nehme ein spitzes Exemplar mit, denke noch ‘hoffentlich ist das gutgegangen!’, aber ein zischendes Geräusch dämpft meine hoffnung stark und wenig später gibt mir ein hoppelndes Vorderrad die Gewissheit: Die verf***te 13 hat zugeschlagen!
Ein Mitfahrer erkundigt sich noch, ob ich alles nötige dabeihabe und verspricht, dass die Jungs am nächsten Kontrollpunkt (der in etwa 20 km kommen müsste) auf mich zu warten. Dann bin ich auch schon einsam, verlassen und verwirrt. Ich will den Glgnfz machen, meine Frau anrufen und mich abholen lassen. Als erstes bemerke ich, dass ich mein Mobiltelefon nicht dabei habe. Dann fällt mir ein, dass ich ja gar nicht verheiratet bin. Und wenn ich verheiratet wäre, dann bestimmt nicht mit einer Frau, die nix besseres zu tun hat, als auf meine Notrufe zu warten.
Es hilft alles nichts, ich muss den Schlauch wechseln. Im Stehen fällt erstmals auf, wie warm und schwül es ist. Das Wasser rinnt mir aus Poren und Nase, ein “Charlottenburger” verfehlt eine Radtouristin nur knapp, der Schweiss brennt in den Augen. Aufgrund mangelnder Übung dauert der Reifenwechsel viel zu lange, der aus der Reihe tanzende Kollege kommt plötzlich angefahren. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er doch noch abgehängt worden war, aber ihn hat es schlimmer erwischt als mich – eine von nur 20 Speichen ist ihm gerissen, trotz geöffneter Bremse schleift die Felge, er muss wohl abbrechen. Schliesslich fährt auch noch ein Grüppchen freundlich grüssend an mir vorbei.
Endlich bin ich wieder startklar, rauf aufs Rad und losgetreten! Ausgerechnet auf der Passage mit dem meisten Gegenwind bin ich ganz alleine! In der vagen Hoffnung, dass meine ehemaligen Begleiter wirklich warten kurble ich was das Zeug hält. Aus den Augenwinkeln sehe ich Kollege Speichenbruch mit einer Gruppe Autofahrer diskutieren – scheint wohl einen Lift nach Hause zu suchen. Am Kontrollpunkt ist die Enttäuschung gross: nur die langsamere Gruppe, die mich überholt hatte, ist noch da. Sie haben es sich bei einer Portion Nudeln gemütlich gemacht, teilweise die Schuhe ausgezogen und erkundigen sich beim Tresenpersonal über Trainingstreffpunkte. Ich frage, ob es Schläuche zu kaufen gibt. (Hatte morgens noch überlegt, einen zusätzlichen Ersatzschlauch mitzunehmen, mich dann aber dagegen entschieden – schliesslich kann ich mich an meine letzte Panne gar nicht mehr erinnern.) Mein Gesuch wurde abschlägig beschieden, allerdings sollte an der nächsten kontrollstelle eventuell Material verfügbar sein. So ganz ohne Ersatzschlauch wurde mir doch etwas mulmig, und ich beschloss, auf die Gruppe zu warten. Also habe ich zur Zeitüberbrückung auch eine Ladung Nudeln mit Tomatensosse runtergewürgt – ziemlich eklig, und auch noch mit Stücken vom toten Tier!
Nach ewiger Zeit besteigen die anderen auch mal wieder ihre Räder. Locker kurbelnd setze ich mich an die Spitze, doch alsbald ertönt von hinten der Ruf “Ruhiger! Ich muss erst mal verdauen.” Ich schaue auf den Tacho, finde Tempo 27 schon ziemlich ruhig und schalte seufzend noch einen Zahn kleiner. Der “Ruhiger”-Typ war ausgerechnet der, der sich eben noch grossmäulig nach Training und Renneinsätzen erkundigt hatte. Als ich mich nach ein paar Minuten umgucke fährt nur noch einer direkt hinter mir, zum Rest klafft schon eine kleine Lücke. Ich verfluche nochmals die “13” und erhöhe wieder mein Tempo. Auf solche Begleiter kann ich getrost verzichten.
Immerhin bleibt der eine auch bei Tempo 30 an mir dran – besser als gar kein Begleiter, also forciere ich nicht weiter und wir nehmen die restliche Strecke als Tandem unter die Räder. Irgendwann meint er entschuldigend zu mir, dass er so lange Strecken nicht gewohnt sei und er sich seine Kräfte einteilen müsse, obwohl er mir gerne mehr helfen würde. Ich versichere ihm “ist schon okay”, er möchte aber hinterher nicht als Lutscher bezeichnet werden. Ich schalte den Autopiloten ein und programmiere auf 30 km/h. Bis hinter Hohensaaten geht es immer an der Oder entlang und immer gegen den Wind. Ab und zu macht mein Begleiter anerkennende Bemerkungen über meine Leistung – geht runter wie Öl, schon dafür hat es sich gelohnt ihn mitzunehmen..
Nach dem Abzweig Richtung Neuendorf wird es windmässig leichter, dafür wird die Topographie wieder welliger. In Neuendorf dann die Erlösung: links ab auf die Bundesstrasse, Rückenwind, abfallendes Gelände. Mit Tempo 55 geht es hinein nach Oderberg, wo ein scharfer Rechtsknick dem Spass erst einmal ein Ende bereitet. Die Strasse steigt wieder an, und zu Ehren unserer Ankunft fängt die Feuerwehrsirene an zu jaulen. Eine rote Baustellenampel bremst uns aus, und wir werden endlose Zeit in der Sonne stehend gegart. Endlich dürfen wir weiter, es folgt der längste und härteste (für Leute aus anderen Gegenden allerdings kaum der Rede werte) Anstieg des Tages hinauf nach Liepe. Mein Begleiter auf seinem Canyon-Leichtgewicht stiefelt locker nach oben, ich mit meinem 11 –kg-Stahlrohr und suboptimalem BMI muss michreinhängen, um dranzubleiben. In Niederfinow geht’s an unserer Stamm-Verpflegungsstation “Frau Kühn” und am Schiffshebewerk vorbei zur “offiziellen” Verpflegungsstelle.
Einen neuen Schlauch kann ich zwar auch hier nicht erwerben, aber immerhin kann mir Radlegende Onkel Wanja mit Flickzeug aushelfen. Pannentechnisch kann mir jetzt nichts mehr passieren, und auch den Weg kenne ich ab hier von alleine. Ausserdem steht der Wind jetzt günstig, was einen möglichen Einbruch meines Begleiters unwahrscheinlicher macht. Hinter Tiefensee wird es aber nochmals sehr hügelig (den Abschnitt kannte ich bisher nur vom Runtersausen) und das Tempo sinkt auf 20 km/h. Dafür gibt’s nach der letzten Kontrolle kein Halten mehr: Angesichts von nur noch 35 zu fahrenden Kilometern und Wind von hinten schalte ich auf 53/14 und gebe alles. Als ich irgendwann nach hinten schaue klafft schon eine grosse Lücke zu meinem Begleiter, ich nehme raus und warte. Er ist jetzt doch “völlig am Arsch”, wie er gesteht, und fordert mich auf, alleine weiterzufahren.
Aber jetzt sind wir so lange zusammen gefahren, da schaffen wir den Rest auch noch. I n moderatem Tempo erreichen wir die Vorstädte und schliesslich Berlin-Mahlsdorf. 217 km in exakt 7 Stunden stehen zu Buche, es ist wie vorausberechnet 16 Uhr, erste Wolken und hohe Luftfeuchtigkeit deuten auf mögliche Gewitter hin.
War mal wieder “jut jewesen”, aber Startnummer 13 lasse ich mir trotzdem nie wieder andrehen.
My own private Oslo
Erinnert sich noch irgend jemand an die Radweltmeisterschaften 1993 in Oslo? Vermutlich nicht, da die Zeitrechnung der meisten deutschen Radsportfans erst mit dem Jahre 1997 beginnt. Oder vielleicht doch, weil der Stifter dieser neuen Religion damals das erste Mal internationales Aufsehen erregte, indem er den Einer-Straßen-Titel der Amateure in jenem Jahr und an jenem Ort gewann?
Egal, ich rede hier auch nicht von den Amateuren, sondern der Profi-Weltmeisterschaft am darauffolgenden Tage.
Ein desaströses Rennen für meinen alten Helden Gianni Bugno, den Titelträger der beiden vergangenen Jahre, der aufgab. Ein finsterer Tag für den Radsport allgemein, da ein unbekannter junger Amerikaner gewann, der in späteren Jahren noch viel Schlechtes ins internationale Profigeschehen bringen sollte. (das ahnte ich damals freilich noch nicht. Es ging mir als Radsport-Traditionalist lediglich gegen den Strich, dass jemand aus einem Land mit ganz anderen sportlichen Vorlieben in unseren schönen eurozentristischen Radsport eingebrochen war. Sollen die doch dort ihren „Weltmeister“ im Baseball küren, oder in jener Sportart, die sie unerklärlicherweise „Fussball“ nennen, obwohl der „Ball“ zumeist im Arm spazieren getragen oder geworfen wird.)
Kein guter Tag eigentlich für fast alle Rennfahrer, die damals dort am Start waren. Im Gegensatz zum Amateurrennen, bei dem ideale Witterungsbedingungen vorherrschten, ging das Profirennen bei heftigem Regen über die Bühne. Möglicherweise wurde vom Regen das Fett geschlachteter Wale auf die Strassen der norwegischen Hauptstadt gespült (“Norwegian Sea-Food” war einer der grossen Sponsoren), jedenfalls gab es dutzende von Stürzen auf glitschigem Untergrund. Und irgendwie trage ich eine Mitschuld daran. Und das kam so:
Am besagtem Sonntag schwang ich mich – beflügelt durch die Übertragung des Rennes am Vortage, bei der sich Klaus Angermann wieder einmal so anhörte, als käme gleich nicht das Peleton, sondern der Kommentator selbst, auf mein Bianchi. (Übrigens ein sehr schicker, aber überaus nervöser Renner. Das Geradeausfahren war nicht gerade seine Stärke, dafür kam ich damit ungefähr doppelt so flink um die Kurven, wie mit dem gediegenen Nachfolger, den ich mir als wertkonservativer Typ später zulegte – aber das nur am Rande.) Bevor ich mich nachmittags ausführlich meinem Sofa und der TV-Berichterstattung widmen wollte, musste ich mich unbedingt noch selbst ein wenig auspowern.
Nachdem ich schon etwa eine Dreiviertelstunde unterwegs war, brach plötzlich – wie das im Sommer halt manchmal geschieht – sozusagen aus heiterem Himmel ein heftiger Gewitterregen los. Und genau so schnell war er auch schon wieder vorüber. Er hinterließ allerdings deutliche Spuren in Form zahlreicher Pfützen und nasser Straßen.
Ich hasse eigentlich nichts mehr, als im Regen Rad zu fahren. Der Grip in den Kurven lässt dann doch zu wünschen übrig, ein Griff an die Bremsen zeigt meistens erstaunlich wenig Wirkung (außer, dass die Bremsbeläge dahinschmelzen), es gerät Sand ins Getriebe und ausserdem sudelt man sich selbst und das Rad total ein. Bei sich selbst ist es mit der anschließenden warmen Dusche dann relativ schnell wieder in Ordnung gebracht, aber so ein hübscher italienischer Flitzer mit wunderschönen italienischen Komponenten verlangt doch etwas mehr Pflege – und Wischen und Polieren sind nicht gerade meine Leidenschaft. Aber nun war es bereits zu spät. Mein Schätzchen und ich hatten bereits eine dunkle Tönung angenommen, und ich dachte mir: „Was soll’s! Muss ohnehin gründlich putzen hinterher, kann ich auch ruhig weiterfahren und mein Trainingsprogramm durchziehen.“ Und so geschah es.
Erst nach drei Stunden trat ich den Heimweg an. Der Übergang von der schwarzen Radhose zu den Beinen war inzwischen kaum noch auszumachen, so viele Schmutzpartikel hatten sich auf meinen muskulösen und rasierten Waden und Oberschenkeln festgesetzt. Der weiße Neger Wumbaba wäre vor Neid gleich noch viel blasser geworden.
Da ich mitten im Stadtzentrum wohnte, brauchte ich für den Weg nach Hause immer mindestens eine halbe Stunde durch den Stadtverkehr. Und das, obwohl ich damals noch ein junger Heißsporn war, und meine Devise lautete: Jeder Trainingstag ohne 30er-Schnitt ist ein verlorener Tag! Und da ich zur Uni, zur Arbeit und zum Training im wesentlichen immer die selbe Strecke zurücklegen musste, kannte ich sämtliche Ampelschaltungen in- und auswendig. Ich wusste also genau, wo ich richtig reintreten musste und wo ich ein wenig entspannter fahren konnte. An der heikelsten Stelle musste ich über drei Ampeln hinweg einen Schnitt von etwa 38 km/h halten, um Grüne Welle zu haben. An der letzten davon musste ich dann links abbiegen.
Ich war gut drauf und lag voll im Plan. Mit reichlich Speed kam ich an der dritten Ampel an und wollte mich schon in die Kurve legen, da sah ich ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit entgegenkommen. Schon in leichter Schräglage zog ich an den Bremsgriffen – ganz böser Anfängerfehler! Erst überholte mich mein eigenes Hinterrad, dann rutschte mir das gesamte Sportgerät aus den Pedalhaken und schlitterte davon. In der Horizontalen nahm ich die Verfolgung auf.
Nach erster Inaugenscheinnahme waren bis auf ein paar Schrammen am Pedal keine weiteren Schäden an meinem Schätzchen auszumachen. Die schmierseifenartige Fahrbahnoberfläche hatte wohl schlimmeres verhindert. Erleichtert und nur ein klein wenig erschrocken legte ich den Rest des Weges zurück.
Zuhause waren auch nach Beseitigung der Schmutzkruste keine schlimmen Folgen am fahrbaren Untersatz zu entdecken. Dafür aber an mir. Seltsamerweise hatte die Lycra-Hose die Rutschpartie über den Asphalt unbeschadet überstanden, obwohl der darunter verborgene Oberschenkel ziemlich lädiert war – ein echtes Rätsel der Physik. Schlimmer waren allerdings die blutigen Wunden an den freiliegenden Stellen der Beine und Knie. Schwarzer Dreck war bereits eingedrungen und es sah überhaupt nicht gut oder appetitlich aus.
Mit dem 100% wasserfreien Reinigungsalkohol, der mir normalerweise zur Säuberung der Tonköpfe am Tapedeck diente, versuchte ich, die Wunden einigermaßen sauber zu kriegen. Mit mäßigem Erfolg, muss ich gestehen. Aber die Zeit drängte auch, da ich mich endlich den letzten Runden des Profi-WM-Rennens widmen wollte.
Das Resultat und das Sturzfestival im Regen habe ich bereits vorweggenommen. Mein eigener Sturz kam mir wie ein böses Omen vor, irgendwie fühlte ich mich schuldig. Trotzdem, es half nichts, meine eigenen Verletzungen riefen nach Pflege. Schreckenswörter wie „Wundstarrkrampf“ gingen mir durch den Kopf, und als mich ein Blick in den Impfpass darüber aufgeklärte, dass der Tetanus-Schutz bereits vor Jahrzehnten abgelaufen war, beschloss ich, mir ärztlichen Rat einzuholen. Da Sonntag war, musste ich beim Krankenhaus um die Ecke anrufen. „Pfleger Dirk“ meldete sich und befahl nach kurzer Berichterstattung: „Sofort vorbeikommen!“
Ich gebe selbst zu, dass die folgenden Schilderungen ein wenig konstruiert und unglaubwürdig klingen. Aber ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Genau so hat es sich zugetragen, und kein bißchen anders!
In der Notaufnahme angekommen war es plötzlich gar nicht mehr so eilig und dringend, wie Pfleger Dirk mir eingebläut hatte. Dutzende mehr oder weniger bizarrer Fälle kamen vor mir an die Reihe. Endlich war ich dann dran, wurde in einen der Behandlungsräume gebeten, wo sich nach weiterer Wartezeit zwei attraktive junge Frauen um mich bemühten. Sie trugen grüne Arztkittel und um ihren Hals hingen Stethoskope, es waren also vermutlich junge Assistenzärztinnen. Eine war brünett, die andere schwarzhaarig. Meine bevorzugten Farben, und beide sahen, wie bereits erwähnt, teuflisch gut aus.
Das Anamnesegespräch mit ihnen war leider viel zu kurz, die Sachlage allerdings auch ziemlich eindeutig. Ebenso eindeutig ihre anschließenden Handgriffe – beide zogen jeweils eine Spritze auf, ich wurde aufgefordert, mich über die Liege zu beugen und die Hosen runterzulassen. Ich tat wie mir befohlen, und die (hatte ich das schon erwähnt?) überaus attraktiven medizinischen Fachkräfte jagten mir synchron jeweils eine Spritze in die rechte und eine in die linke Arschbacke.
Ich muss dazu sagen, dass ich eine absolute Spritzenphobie habe – schon allein aus diesem Grund hätte ich niemals Radprofi werden können. Aber in diesem Moment habe ich die Situation richtiggehend genossen.
Pleiten, Pech & Pannen
Wer ein echter Rennradler sein will, muss natürlich sein Trainingslager in der Saisonvorbereitung auf Mallorca abhalten. So waren auch meine Teamkollegen und ich schon des öfteren auf der Balearen-Insel abgestiegen, und es war meistens ein großer Spaß. Gezieltes Grundlagentraining war allerdings so gut wie unmöglich, da die einzelnen Trainingstage eher wie harte Etappen bei einer großen zweiwöchigen Rundfahrt gefahren wurden. Was doch etwas an die Substanz geht. Und apropos Substanz: Auch das zweite Trainingsziel, nämlich dem angesammelten Winterspeck Einhalt zu gebieten, wurde meist verfehlt. Fast ebenso viele Stunden wie auf dem Rad wurden nämlich im Speisesaal des Hotels verbracht, um dem abendlichen Buffet beizukommen. Oder bei Bäckern, um die Vorräte von Enseimadas und Panades zu plündern.
Man kehrte also häufig mit höherem Kampfgewicht und etwas ausgelaugt in die Heimat zurück, aber die Form war erstaunlicherweise meistens doch ganz passabel geworden. „Die muss man doch auch mal irgendwie nutzen!“ kam es Kamerad Markus eines Jahres in den Sinn. Und bei der Durchforstung des Wettkampfkalenders war ihm der Helenesee-Duathlon ins Auge gesprungen.
Viel lieber als Rad zu fahren läuft Markus nämlich durch die Gegend. Ursprünglich war er mal Karatekämpfer und hat das auch quasi semiprofessionell betrieben, indem er Selbstverteidigungskurse für Frauen gegeben hat. Aber irgendwann hat er damit aufgehört. Vielleicht weil es bei einer Abschlussveranstaltung mal Ärger gegeben hatte. Um ein realistisches Szenario darzustellen, hatte er auf dem Parkplatz eines Industriebetriebes nächtens einen Parcours aufgebaut, den die Teilnehmerinnen absolvieren mussten. Den potentiellen Räuber und / oder Vergewaltiger gab er selbst, und alles lief total realitätsnah ab. Die Frauen traten ihm volles Rohr und mit viel Geschrei gegen das Suspensorium – ganz so, wie er es sie gelehrt hatte. Leider hatte er vergessen, die wenigen Anwohner vorab zu benachrichtigen, so dass plötzlich mehrere Einsatzwagen der Polizei die Szene aufmischten.
Danach hatte er sich dem Ausdauersport zugewandt. Erst kam er aufs Rad, aber schon bald verfiel er mehr und mehr dem Laufen. Kürzllich hat er seinen dreißigsten Marathon unter drei Stunden absolviert – verteilt auf fast sämtliche Kontinente. Beispielsweise ist er den Peking-Marathon gelaufen. Während seines Aufenthalts dort wurde er von chinesischen Lauffreunden in ein typisches Restaurant ausgeführt. In das Lokal gelangte man durch einen schmalen Gang, der links und rechts von Käfigen gesäumt war. Darin warteten Nutrias auf ihr Schicksal – nämlich von einem Gast ausgesucht und anschließend vom Leben zum Tod befördert und tischfertig gemacht zu werden.
Markus ist auch ein echter Kämpfer vor dem Herrn: Beim Berlin-Marathon hat er sich einmal so ins Koma gelaufen, dass er tatsächlich im Ziel kollabiert und erst im Sanitätszelt wieder aufgewacht ist. Am Tropf hängend stammelte er nur ständig „Jungfrau! Jungfrau!“ Der Hintergrund war, dass er wenige Wochen später an einem Marathonlauf aufs Jungfrau-Joch teilnehmen wollte, was er jetzt gefährdet sah. Die Rote-Kreuz-Mitarbeiter müssen ihn jedenfalls für vollkommen durchgeknallt gehalten haben.
Zurück zum Thema: Als Radfahrer und Läufer war es natürlich nur ein kurzer Schritt zum Mehrkämpfer, und das heißt in diesem Falle zum Duathlon. Zwar hatte sich Markus auch schon als Triathlet versucht, dort gab es aber aufgrund leichter Schwimmschwächen für ihn nichts zu erben. Leichte Schwimmschwäche ist aber doch zu beschönigend ausgedrückt, merke ich gerade. Er war richtig schlecht im Schwimmen, und das wurde auch nicht viel besser, nachdem er sich beim Uni-Sport für intensives Schwimmtraining angemeldet hatte. Die Trainerin, ein Überbleibsel aus alten DDR-Kader-Zeiten gab sich anfangs zwar Mühe, ihn durch paramilitärischen Drill auf Vordermann zu bringen, musste aber doch irgendwann die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen einsehen. Nach einigen frustrierenden Erlebnissen (es wurden zum Beispiel Staffelwettbewerbe ausgetragen, wobei man mit einer Hand eine brennende Fackel über Wasser halten musste. Bei der Bildung der Mannschaften blieb Markus regelmässig als Letzter übrig, und seine Teamgefährten verdrehten nur die Augen, wenn sie ihn in der Staffel hatten, weil sie genau wussten: Sie konnten sich die Seele aus dem Leib schwimmen und würden doch nur den letzten Platz belegen.) hat er dann dem Dreikampf endgültig entsagt.
Womit wir endlich wieder beim Helenesee-Duathlon wären. Sein Werben um dortige Teilnahme hatte insofern Erfolg gehabt, als er meinen Namensvetter, den kleinen Jan, und mich überreden konnte. Das bedeutete zwar ein paar läuferische Extraschichten auf Mallorca, aber das Laufen am Strand hatte auch einen gewissen Reiz. Zumindest die drei oder vier mal, die ich mich dazu aufraffen konnte.
Der Sonntag nach unserer Rückkehr von der Insel war der große Tag, und so machte ich mich Samstagnachmittag daran, mich und mein Material vorzubereiten. Das Rad kam aus der Tasche, in der es noch von der Flugreise verpackt war, auf den Montageständer, ein bißchen gewienert, Kette geölt und alle Gänge durchgeschaltet – da macht es plötzlich ‚Ratsch!‘ – Schaltzug gerissen. Sämtliche Kisten und Schublädchen durchwühlt – kein Ersatz zu finden. Die Radläden hatten damals um diese Zeit bereits alle geschlossen, auch diverse Telefonanrufe bei Bekannten blieben ergebnislos. Was sind das alles bloß für Leute, die nicht einmal die gängisten Verschleißteile zu Hause vorrätig haben.
Nun war guter Rat teuer. Ohne Halt durch das Drahtseil zwang die Feder den vorderen Umwerfer auf das kleine Kettenblatt. Mit einer Maximalübersetzung von 39/14 oder so würde ich mich im Wettkampf wohl ziemlich blamieren. Was also tun?
Mir fiel wieder ein, dass Markus als akribischer Vorbereiter mit dem Veranstalter telefoniert und Erkundigungen über den Ablauf der Veranstaltung eingeholt hatte. Dabei hatte er unter anderem erfahren, dass der 40-Kilometer-Radkurs vollkommen flach sei. Wozu brauchte ich also einen vorderen Umwerfer? Kurzerhand wurde das Bauteil einfach abmontiert und die Kette auf das große Blatt gelegt. Nebenbei auch gleich ein paar Gramm Gewicht gespart – ich war stolz auf mich und meine Idee.
Nachdem wir am folgenden Morgen allerdings den Bahnhof von Frankfurt / Oder verlassen hatten und gemütlich Richtung Helenesee strampelten kamen mir erste Bedenken. Ein Verkehrsschild kündigte eine 8%ige Steigung an… Ansonsten war mir schon öfter mal der Verdacht gekommen, dass die Brandenburger Straßenmeistereien die „8%“-Schilder im Großeinkauf mit starkem Preisnachlass erworben und seither an jedem kleinen Hügelchen ein solches aufgestellt hatten. So ist unter anderem am Ortsausgang von Trebbin der vermutlich flachste Achtprozenter des gesamten Universums zu bewundern.
Aber hier entsprach das ausnahmsweise mal der Realität. ‚Mist!‘ dachte ich, ‚wieso ist es hier so hügelig?‘ Aber das musste ja noch nichts zu bedeuten haben, obwohl wir schon bedrohlich nahe an Start und Ziel waren.
Dort angelangt wurden wir alsbald zur Wettkampfbesprechung gebeten. „Die Radstrecke ist ein T-Kurs mit zwei Wendepunkten“, erklärte der Wettkampfleiter. „Es geht zunächst über den Berg, auf der anderen Seite wieder runter, dann kommt die erste Wende. Wieder zurück über den Berg, geradeaus zur zweiten Wende und dann zum Ziel.“ Meine Miene verfinsterte sich. Dreimal über diesen Drecksberg mit 53/17 würde mir Schnellkurbler ziemlich in die Beine fahren.
Aber nicht mehr zu ändern. Missmutig stellte ich mich zum Start auf. Zuerst waren zwei Lauf-Runden à 3,5 Kilometer am See entlang zu absolvieren, danach die 40 Kilometer mit dem Rad, und zum Abschluss noch einmal eine Runde zu Fuß. Der Startschuss knallte und alle rannten los wie die gesengten Säue. Ich musste mitrasen, ob ich wollte oder nicht. Viel schneller als im Training. Und auch viel schneller, als ich eigentlich geplant hatte.
Wider Erwarten ging es eigentlich ganz gut. Ich lag zwar ungefähr auf Höhe der ersten Läufer im hinteren Drittel des Feldes, aber mehr hatte ich für die Laufstrecke auch nicht erwartet. Auf dem Rad würde ich das Feld schon von hinten aufrollen, und außerdem lag der kleine Jan als gut trainierter Läufer noch hinter mir.
Nach dem Lauf ging es in die Wechselzone, und ich Blindfisch hatte zuerst Mühe, mein Rad zu finden. Dann war ich relativ planlos beim Umziehen, und rechts und links von mir auf dem Rad entschwindende Konkurrenten machten mich ein wenig hibbelig. ‚So ein, zwei mal den Wechsel üben wäre vielleicht nicht verkehrt gewesen‘, dachte ich mir, aber nun war es zu spät.
Irgendwann schwang ich mich dann auch in den Sattel und begab mich über einen sehr holprigen Waldweg hinaus auf die Strecke. Dankenswerterweise hatten die Organisatoren die schlimmsten Löcher und Wurzelanhebungen mit roter Leuchtfarbe markiert, so dass auch ein Sehbehinderter wie ich problemlos daran vorbeikam. Endlich auf der richtigen Straße angekommen wollte ich auf Renngeschwindigkeit beschleunigen, merkte aber sofort: Es ist nicht wie sonst auf dem Rad!
Der ungewohnt schnelle Lauf war mir doch sehr in die Beine gefahren und ich fand meinen üblichen Tret-Rhythmus nicht. Zwar konnte ich recht schnell drei oder vier andere Teilnehmer überholen, aber dann kam schon der Anstieg und die Beine wurden mir noch schwerer als zuvor.
Ächzend und schnaufend quälte ich mich im dicken Gang über die Kuppe und musste auf der anderen Seite erst einmal rollen lassen und die Beine ein wenig schütteln. Mit einem vermutlich aufmunternd gemeinten „Forza!“ zischte der kleine Jan an mir vorbei und meine Laune wurde noch schlechter. Eigentlich lasse ich mich von dem auf dem Rad nicht abhängen, aber heute war eben alles ein wenig anders.
Vor der ersten Wendemarke kamen mir die Spitzenleute schon entgegen, und ich entdeckte Markus in ziemlich aussichtsreicher Position. Wenigstens er würde wohl Spaß und ein Erfolgserlebnis haben, falls er nicht noch wegen Windschattenfahrens disqualifiziert werden würde (Er fuhr zwar nicht hinter, sondern versetzt neben seinem Konkurrenten, aber bei Seitenwind ist das ja auch viel effektiver). Ich dagegen quälte mich mehr schlecht als recht über die Runden und machte nach der Eichhörnchen-Taktik nach und nach ein paar Plätze gut. Gleich zwei Konkurrenten auf einen Streich überholte ich bei der zweiten Wendemarke – beide mit Carbon-Laufrädern ausgerüstet, deren Bremseigenschaften sie wohl nicht so recht trauten. Also schlichen sie langsam bis zur Wendemarke und eierten um die Kurve, während ich mit Volldampf auf die Pylone zuhielt, einmal beherzt an den Bremshebeln zog, das Rad zur Seite kippte und wieder Fahrt aufnahm. ‚Triathleten!‘ dachte ich. ‚Schwätzer vor dem Herrn. Wissen alles über Fettverbrennungszonen und ähnliches Zeug, verbringen noch mehr Zeit mit Trainingsplanung als mit dem schon sehr zeitintensiven Training an sich, holen alles aus ihrem Körper raus was rauszuholen ist – aber richtig radfahren können sie einfach nicht. Das steht ja wohl fest.‘
Kurz vor dem Abzweig zur Wechselzone konnte ich nach längerem Kampf meinen letzten Gegner überholen und nahm mir fest vor, den kleinen Vorsprung, den ich auf ihn herausgefahren hatte, mit letztem Einsatz auf der Laufstrecke zu verteidigen. Dermaßen (über)motiviert flitze ich den holprigen Waldweg hinab in die Wechselzone. Und während ich bei der Ausfahrt bergauf noch auf die Leuchtmarkierungen geachtet hatte waren sie mir jetzt im Eifer des Gefechts völlig entgangen. Es gab einen heftigen Schlag, als ich über eine größere Asphaltblase rumpelte, und mein Tritt ging ins Leere – Kette heruntergefallen. ‚Don’t panic, reine Routinesache!‘ Ich spielte am Schalthebel, um den Antriebsstrang wieder dorthin zu befördern, wo er hingehört, aber es tat sich nichts. Ich Depp hatte ja gar keinen Umwerfer dran.
Es half nur absteigen und die Kette von Hand wieder auflegen. Neben den schwarzen Fingern, die ich mir dafür einhandelte, überholte mich auch noch mein Hauptgegner während dieser Prozedur. Weg war er, den Kampf mit ihm konnte ich vergessen. So verlief der Rest des Wettkampfes ohne Aufregung. Vor mir war niemand zu sehen auf der Laufstrecke, und von hinten kam auch keiner mehr.
War auch ganz gut so, denn ich setzte nur noch rein mechanisch einen Fuss vor den anderen. Wäre jemand an mir vorbeigelaufen – ich hätte mein Tempo überhaupt nicht mehr variieren können. Es ging nur noch ums Ankommen.
Ich belegte irgendeinen Mittelfeldplatz, was eigentlich ganz okay war. Etwas ärgerlich, dass der kleine Jan direkt vor mir platziert war. Der hatte auf der letzten Laufrunde scheinbar noch ordentlich eingebüßt, während Markus sogar zur Siegerehrung gerufen wurde und irgendeinen Sachpreis abstaubte.
Für ihn war es im Gegensatz zu mir ein perfekter Tag. Und für mich war der Schlamassel damit noch nicht zu Ende. Nach Erwerb eines Schaltseiles und vor der Montage des Umwerfers dachte ich mir, wenn ich das Ding schon mal frei in der Hand habe, dann kann ich es auch mal gründlich reinigen und auf Hochglanz bringen. Gedacht, getan. Mittels Nitroverdünnung wurden sämtliche schwarzen Fettrückstände abgewaschen und das Meisterwerk italienischer Schmiedekunst schön poliert. Ein irgendwie erotischer Akt – allerdings mit jähem Interruptus. Urplötzlich war das Leitblech einfach abgebrochen. Hatte ich es etwa zu intensiv liebkost? Egal, es war jedenfalls ein Desaster, die ultimative Katastrophe und ein äusserst unschöner Abschluss meines ersten und bisher einzigen Duathlon-Wettkampfs.
Zwei Mann auf einem Rad
Teil 1
Wenn alte Männer zusammenkommen schwärmen sie oft von vergangenen Zeiten, als man noch die Welt aus den Angeln heben konnte (sofern man nur wollte) und wo man Leistungen erbracht hat, die einem heute wie von einem anderen Stern vorkommen. Oft enden solche Treffen dann mit den Worten “man könnte doch mal” und “man müsste mal wieder”.
In unserem konkreten Fall heisst das: man könnte doch eines der grossartigsten Radteams, das je auf diesem Planeten existiert hat, wiederauferstehen lassen – TEAM FARRUTX; die roten Blitze. Und welcher Tag wäre geeigneter für eine Farrutx-Gedächtnisfahrt, als der Cyclassics-Tag, als vor mittlerweile 9 Jahren nur Beschiss unseren Triumph in der Mannschaftswertung verhindert hat – natürlich keiner.
Da wäre ich natürlich sofort dabei, gäbe es nicht ein klitzekleines Problem. Aufgrund massiver Augenprobleme bin ich momentan für schnelles Fahren in der Gruppe völlig ungeeignet. Aber es gibt eine Lösung: Ich nehme einfach auf dem Rücksitz von C.s Tandem Platz und kann so meine Bombenform einbringen, ohne mich und andere zu gefährden.
“Kleines” Problem dabei: der Hinterbau des Tandems ist auf die Masse von C.s zwergwüchsiger Freundin ausgelegt. Fraglich, ob die Verstellmöglichkeiten ausreichen, um eine akzeptable Position für mich zu ermöglichen. Da hilft nur ausprobieren, und so erscheine ich Freitag abend zur Testfahrt.
Zuerst wird nur die verbaute Federsattelstütze bis zum Maximum herausgezogen und der “Lenker” (der seinem Namen wohl kaum Ehre macht) bis zum Anschlag nach vorne geschoben. Bei einer Sitzprobe sinken Stütze und omamässig gepolsterter Sattel tief nach unten, meine Knie streifen beinahe die Ohren. So hat das keinen Sinn – eine extralange Tune-Stütze und ein fizik-Arione-Sattel werden verbaut. Erneute Sitzprobe – schon viiieeel besser, bereit zur Probefahrt!
Also aufgestiegen, rechter Fuss eingeklickt, und schon geht es los. Erster Eindruck: Schmerz, als mir das linke Pedal in die Achilles-Sehne knallt. C. hat zügig Fahrt aufgenommen, die Kurbeln drehen sich flott und ich schaffe einfach den Einstieg ins zweite Pedal nicht. Fazit: Man sollte koordiniert und langsam losfahren und dann erst richtig beschleunigen. Zweiter Eindruck: die Möglichkeit zu lenken oder zu bremsen vermisse ich sehr. Man ist auf Gedeih und Verderb dem Steuermann ausgeliefert, und als C. erst diagonal die Fahrbahn kreuzt und anschliessend zügig auf eine dunkelgelbe Ampel zuhält bricht mir zusätzlich zur Hitze-Transpiration auch noch der Angstschweiss aus. Ansonsten bin ich angenehm überrascht davon, wie flott man trotz des langen Radstands mit dem Teil um die Ecken kommt.. Dem sonntäglichen Event steht von unserer Seite aus nichts im Wege.
Bei den anderen sieht es da schon viel schlechter aus. Von den einstigen “Glorreichen Zehn” sind drei mittlerweile weggezogen, zwei im Urlaub, einer familiär eingebunden und einer auf sonntäglicher Wohnungssuche, nachdem ihn seine Freundin rausgeschmissen hat. Also machen sich zur grossen Revival-Tour am frühen Sonntag morgen lediglich drei Nasen auf die Reise, davon zwei Mann auf einem Rad.
Mit dem Regional-Express geht es zunächst bis Oranienburg. Dort werden letzte Einstellungsarbeiten – wie zusätzlichen Flaschenhalter anschrauben – vorgenommen – und dabei die Entdeckung gemacht, dass die Sattelstütze schon ein klein wenig über den maximal erlaubten Bereich hinausgezogen ist. Aber was soll’s: ein bisschen Vertrauen in südbadische Ingenieurskunst muss schon sein (das Wort “Gottvertrauen” vermeide ich an dieser Stelle bewusst, damit mir nicht wieder permanent mit der Nettikette vor der Nase herumgewedelt wird), und nachdem M. noch vergeblich im Bahnhofs-Blumenladen nach Wasser gefragt hat (die Verkäuferin verwiess ihn auf eine gefüllte Giesskanne, aber sein Bedarf an Wachstumshormonen war schon gedeckt) kamen wir endlich los.
M. hatte ohnehin schlechte Karten, da er von uns dreien vermutlich der unfitteste war, und C. und ich zusätzlich noch “die Kraft der zwei Herzen” aufzubieten hatten. Deshalb klemmte er sich von Beginn an in unseren (meinen) Windschatten, während wir schnell Speed aufnahmen und über die Brandenburger Alleen heizten. Für mich echt ein tolles Gefühl, richtig Gas geben zu können ohne ein stetiges latentes Unsicherheitsgefühl, dass man ein Schlagloch, einen Ast oder ein anderes plötzlich auftauchendes Hindernis übersehen könnte. C. sagte zu Beginn auch noch jede kleine Bodenwelle, jedes Loch, Schienen usw. an, weil er meinte, dass die gefederte Sattelstütze schon Sinn machte, da man als Hintermann nichts sieht und auf Schläge nicht reagieren kann. Aber wir hatten relativ breite Reifen aufgezogen, plötzliche Schläge bin ich von meinen Solo-Blindfahrten gewöhnt, und ausserdem hat sich mein fünfter Lendenwirbel seit fast zwei Jahren nicht mehr gemeldet – also alles völlig easy. Und die Frage an unseren “Schattenmann”, ob das Tempo für ihn okay sei, beantwortete dieser mit einem gekeuchten “Klar! Das halte ich locker 10 Minuten durch.” Nun wird auch klar, warum er den Dresscode verletzt und nicht im knallroten Teamtrikot erschienen ist – er wollte sich wohl das Gespött früherer Jahre ersparen, wenn sein Kopf unter Anstrengung die Farbe des Trikots angenommen hat.
C. und ich harmonierten ziemlich gut, die Trittfrequenz war okay (obwohl ich solo noch ein wenig schneller gekurbelt hätte) und das Tempo lag wohl immer zwischen 35 und 40 km/h, obwohl wir mässigen Gegenwind hatten. Über Kremmen ging es nach Sommerfeld, wo es die erste Bewährungsprobe gab: ein knapp einen Kilometer langes Kopfsteinpflasterstück der übleren Sorte. Kurze Verständigung, dann wird ein dicker Gang aufgelegt und kräftig durchgedrückt. Mit Highspeed fliegen wir über die “cobbles”, und von unserem “Lutscher” ist alsbald nichts mehr zu sehen. C. ermahnt mich noch, an die etwas überstrapazierte Sattelstütze zu denken, aber als ausgewiesener Pavé-Experte stehe ich eh fast mehr in den Pedalen, als dass ich sitze.
Am Ortsausgang Sommerfeld warten wir auf unseren “Tender”, der sein Rad scheinbar über das Pflaster getragen hat, dann geht es weiter. Kurzfristig übernimmt M. die Führung und wird von einem entgegenkommenden Rennradler gegrüsst. Uns auf dem Tandem würdigt er allerdings keines Blickes, worüber sich C. mokiert. Mir ist dieser spiessige Gruss-Zwang aber sowieso zuwider. Über Beetz und Herzberg geht es nach Lindow am schönen Wutzsee, der schon bei Theodor Fontane eine Rolle spielte. (Ich weiss allerdings nicht mehr welche – alles viel zu lange her.) Wir fliegen förmlich durch die einsamen Alleen – Spassfaktor sehr hoch – und alsbald erreichen wir Rheinsberg.
In diesem Touristenort ist schon etwas mehr los: Knapp bekleidete Fussgänger bevölkern die Bürgersteige, Kinder quengeln, aus Autos wummern Bässe und dröhnen unglaublich schlechte Hiphop-Texte, Pferde mit Kutschen klappern über den Asphalt. Wir legen ein Päuschen ein und laben uns an Eis, Erdbeerkuchen und Eierkuchen mit Blaubeeren – det ham wer uns verdient. Wir haben 60 Kilometer gefahren, und der Schnitt liegt trotz Anfahrt durch den Stadtverkehr und Rumgeschiebe auf dem Bahnhof über 34 km/h.
Nun beginnt der schönste Abschnitt der Tour. Durch die zahlreichen Mecklenburgischen Seen geht es dahin, die Architektur ist schon sehr nordisch. Kollege D. schwärmt ja immer sehr von der Mecklenburgischen Seenplatte und gibt als Hauptgrund immer an sie wäre “erfreulich menschenleer”. Das wiederum können wir gar nicht bestätigen. Der Verkehr hat im Vergleich zum Beginn der Tour doch stark zugenommen, und bald kommen auch wieder erste Unfreundlichkeiten wie Hupen, Schneiden oder “Radweg!”-Geblöke. Das stört uns aber alles nicht, wir sind hier um uns zu amüsieren. Und ausserdem biegen wir hinter Wesenberg ohnehin auf den touristischen Seen-Radweg ab. Dort haben wir das Sagen, und Autos sind nur geduldet. Könnte eigentlich überall so sein. Vorbei am Grossen Labussee, Useriner See und Zierker See erreichen wir schliesslich Neustrelitz (den Abstecher zur Müritz müssen wir leider streichen, da es sich laut Auskunft anderer Radler um einen schwer befahrbaren Sandweg handeln soll). Der Schnitt hat ein wenig gelitten, aber der Entspannungsfaktor war ungemein hoch. Ausserdem mussten wir an kleinen eingestreuten “Bergwertungen” erkennen, dass uns der Single-Radler da überlegen ist. Bis wir uns koordiniert hatten, dickergeschaltet und im Weiegetritt hochgestapft sind, war er meist schon oben – bis auf einmal, wo er zwischendurch verhungert ist und ich ordentlich reintrat, als ich das bemerkt hatte. Da klappte aber das Zusammenspiel mit meinem Steuermann nicht, und ich hätte uns beinahe auf den Kollegen hintendraufgeschoben.
In Neustrelitz sind wir ein wenig auf dem zentralen Marktplatz abgehangen, dann ging es weiter Richtung Fürstenberg. Da wir erstmals an diesem Tag Rückenwind hatten, wollten wir gleich mal ausprobieren, wie schnell wir im Flachen mit dem Gerät fahren können, und mussten feststellen: so ab etwa 45 Sachen wird es sehr schwierig, das Tempo weiter zu steigern. Als limitierende Faktoren kommen die breiten 26”-Reifen und die ungünstige Position (MTB-Lenker) des Vordermannes in Betracht – vor allem aber, dass mit zunehmender Belastung die Koordination schwieriger wird. Die vier Pleuelstangen laufen nicht mehr perfekt synchron, und wir bremsen uns quasi gegenseitig.
Irgendwann bemerkt M., dass beim Tandem das Satteltäschchen offensteht, und es fühlt sich auch ziemlich leer an. Zwar halb so wild, schliesslich fehlen nur Geld und Schlüsselbund, aber wir müssen doch wieder zurück und suchen. Unterwegs haben wir ein paar seltsame Begegnungen mit Mecklenburger Jugendlichen, aber sonst sage ich dazu jetzt und hier nichts mehr. An unserem “Rastplatz” werden wir tatsächlich fündig. Alles noch da – der Meck-Pommer ist doch besser als sein Ruf – und die Ladung haben wir tatsächlich schon beim “Startsprung” vom Bürgersteig verloren.
Noch einmal nehmen wir die Speedstrecke unter die Räder, bevor wir die Tour an einem namenlosen See kurz vor Fürstenberg ausklingen lassen. Das Wasser ist pisswarm und naturtrüb – aber trotzdem sehr entspannend. In Fürstenberg quetschen wir uns schliesslich mit Müh und Not in den bereits überfüllten, von der Ostsee kommenden, Regionalexpress. Eine grössere Gruppe von Skinheads sorgt bis Berlin für unsere Unterhaltung. Zum Glück keine Nazis, sondern “working class heroes”. Bis auf dass sie den ganzen Waggon vollquarzen und ihren extrem schlechten Musikgeschmack sind sie eigentlich nett und harmlos.
Alles in allem war es mal wieder “jut jewesen” und schreit förmlich nach einer Wiederholung.
C4F-Userzwischenfrage: Was hatte das mit dem Beschiss vor 9 Jahren auf sich?
Joaquin-Erklärung: Damals erfolgte die Zeitnahme noch nicht durch Transponder, sondern man bekam ein Plastik-Kärtchen mit Strichcode, das im Ziel abgelesen werden sollte. Für diese Aufgabe hatten sie scheinbar ein paar Sonderschüler engagiert, die restlos überfordert waren.
Als die Spitzengruppe (mit sämtlichen Farrutx-Fahrern) ins Ziel stürmte, fragte so ein Trottel mit Lesestift in der Hand, welche Strecke wir gefahren seien. Auf die Antwort „170 natürlich!“ schickte er uns weiter, ohne das Kärtchen abgelesen zu haben. Wir dachten, es käme dann noch ein Kollege von ihm, der für uns „zuständig“ sei – war aber nicht so. Also durch den mittlerweile eingetroffenen Riesenpulk wieder zurückgekämpft und den Typen zusammengestaucht, woraufhin der Kleinlaut seinen Stift in Aktion treten liess. Hat jeden von uns ca. vier Minuten Zeit gekostet.
Zwei Teamkollegen sind dann später noch mal hingegangen und haben (mit dem Fahrrad-Computer als Beleg für ihre Fahrzeit) ihre Zeiten korrigieren lassen. Mir war das zu blöde, aber als wir nach ein paar Wochen die Ergebnislisten zugeschickt bekamen („online“ war damals noch ein Fremdwort) und in der Teamwertung mit nur einer Minute Rückstand auf Platz 2 lagen, habe ich mich doch ein wenig geärgert.
Teil 2
Nach der bestandenen Anfänger-Prüfung im Tandem-Fahren stand am Wochenende die Fortgeschrittenen-Lektion auf dem Plan: “Schnelles Fahren in der Gruppe”. Reichlich Gelegenheit dazu boten die Veranstaltungen des BRC Semper.
Zwar hatte ich mit dem samstäglichen Oderbruch-Marathon noch eine Rechnung offen, aber mein umtriebiger Pilot hatte da keine Zeit – und ausserdem jammert er immer über Sitzprobleme bei längeren Strecken. Somit peilten wir die 160-Kilometer-Strecke am Sonntag an – mit der Option, bei streikendem Sitzfleisch gegebenenfalls abzukürzen.
Also schlug ich Sonntag morgen um 8 Uhr (pünktlich!, obwohl ich erst noch meinen Helm suchen und die darauf befindliche Staubschicht abwischen musste) im Prenzlauer Berg auf, um letzte Abstimmungsarbeiten am Boliden vorzunehmen. Veränderungen gegenüber der letzten Tour: der Pilot hatte sich den Aliante-Sattel unter den Nagel gerissen, weil er darauf besser zu sitzen hoffte. Ich durfte dafür auf einem Flite Platz nehmen – eine späte Premiere für mich. Statt der Tune-Stütze, deren Länge (oder Kürze) doch etwas zu heikel gewesen war, wurde eine Syncros-MTB-Stütze verbaut. Die habe ich unter den entsetzten Blicken von C. gleich mal wieder 1,5 cm weiter herausgezogen – dabei hatte er sie doch nach seinen (längeren) Beinen eingestellt. Die neuerdings angebrachten Schutzbleche hätte ich am liebsten noch abgeschraubt – das Auge fährt schliesslich mit – aber dafür war keine Zeit mehr. Auf ging es Richtung Startort Marzahn, wo wir eine halbe Stunde später eintrudelten. “Hier könnte ich nicht wohnen. Wenn ich da nach einem Bierchen zu viel aus der Kneipe käme, würde ich niemals meine eigene Haustür finden.” waren meine Gedanken zu den vielen Plattenbauten, die sich wie ein Ei dem anderen glichen.
Am Start trafen wir noch ein paar „velophile“ Bekannte, die bereits den Marathon vom Vortag in den Beinen hatten und sich noch unschlüssig über ihre heutige “Taktik” waren – je nach Zustand der Beine wollten sie eventuell eine Gruppe “fahren lassen” (was insbesondere bei F. schon einiges heisst) oder gar auf 120 km abkürzen. Auch ein zweites Tandem stand noch am Start. Das Pärchen darauf hatte aber von vornherein maximal die 111-km-Strecke, wahrscheinlich nur die 71, geplant – nicht unsere Liga.
Pünktlich um 9 setzte sich der Tross in Bewegung. Ein schönes Bild, wie sich das Peloton wie ein Lindwurm um Kurven und polizeigesperrte Abzweigungen schlängelt. Ansonsten ist es wie immer: innerhalb bebauten Gebietes “neutralisierte” Fahrt in gemässigtem Tempo, aber sobald halbwegs freies Gelände erreicht ist scheint jemand eine imaginäre Startflagge zu schwenken, und das “Rennen” ist eröffnet.
Zunächst in der hinteren Hälfte des Pulks gestartet finden wir uns alsbald auf der Überholspur wieder und sortieren uns bei unseren Bekannten im vorderen Viertel ein. Die Fahrer an der Spitze des Feldes scheinen eine frühe Selektion herbeiführen zu wollen, denn an jeder Welle und nach jeder Kurve wird das Tempo gnadenlos in die Höhe getrieben. Für uns besonders fatal, da wir unseren trägen Tanker nicht so schnell auf Tempo kriegen und jedesmal ein kleines Loch reissen lassen müssen. Nach dem Schliessen der Lücken wird dann die gesamte investierte Energie mittels Bremsung sinnlos vernichtet – eine äusserst unökonomische Fahrweise, und für mich, der ich stolz darauf bin, beim Fahren im Feld so gut wie nie die Bremshebel zu benutzen, ein ganz besonderer Jammer. Ausserdem sind wir nach einer Kurve auf die rechte Seite hinübergewechselt – bei Kantenwind von rechts keine schlaue Idee, und mit unserem “Long Vehicle” haben wir auch keine Chance, uns zwischen den anderen hindurch auf die windabgewandte Seite zu schlängeln. So fahren wir einerseits permanent im Wind, kommen aber andererseits, da sich das Feld nach links auffächert, auf der “leeren” rechten Seite fast bis an die Spitze. Wir überlegen kurz, ob wir vorne rausfahren sollen, um uns auf der anderen Seite wieder zurückfallen zu lassen – aber das wäre wohl ein zu gewagtes Manöver.
Das Windkantenfahren und die höllischen Tempointervalle bewirken jedenfalls, dass es hinten bereits mächtig bröselt – und auch ich muss mich einigermassen zusammennehmen, um meinem Blindenhund nicht in die Trikottaschen zu göbern. Seit dem Start sind erst 25 km vergangen, und schon frage ich mich, ob der Sonntag mit ausschlafen, gemütlich frühstücken und mit einem Buch in den Park legen nicht besser verbracht worden wäre.
Glücklicherweise kommt bald die erste Kontrollstelle – Zeit, um etwas durchzupusten. Die besonders eiligen sitzen jedoch sofort wieder auf dem Rad, andere (auch von unseren Bekannten) streichen die Segel und wollen die Gruppe ziehenlassen. Wir rollen zunächst etwas unentschlossen hinterher, doch F. gibt das Kommando: “Wir fahren da wieder ran!” Das ist dann unser Job. Nachdem uns F. auf das richtige Tempo beschleunigt hat rollen wir wie eine Lokomotive (mit zahlreichen Anhängern), und schon nach relativ kurzer Zeit ist die Spitze wieder gestellt. Das Tempo ist jetzt dank Rückenwind noch höher, und an den Wellen platzen diejenigen Fahrer weg, die sich nur durch Auslassen der Kontrolle so weit vorne halten konnten. Die Spitzengruppe (ca 15 Mann) steht damit endgültig, und da ich auf den Abfahrten auch meine ganz speziellen Eigenschaften als offizieller C4F-Abspecker in die “Waagschale” werfen kann sorgen wir dort für das Tempo. 63 Sachen ruft mir C. irgendwann als Geschwindigkeit zu – nicht schlecht für 44/11 als grösste Übersetzung. Aber ob das der v/max des Tages war lässt sich hinterher nicht mehr feststellen. Der Cateye weist als Tageshöchsgeschwindigkeit 132,5 km/h aus. Gibt es eigentlich irgendwo auf diesem Planeten einen cateye-Tacho, der korrekt funktioniert?
Während der Schussfahrt hinunter nach Eberswalde übersieht C. in gewohnter Manier eine dunkelgelbe Ampel, und so donnern wir mit nur noch zwei Begleitern durch die Stadt. Allerdings werden wir durch lahmarschige Autofahrer wieder ausgebremst. Unser Plan, uns bis zum Beginn des Anstiegs zum Oder-Havel-Kanal einen kleinen Vorsprung herauszuarbeiten, ist damit hinfällig – alle sind wieder dran. Aus der Stadt heraus wird dann ganz manierlich und in Zweierreihe gefahren – die Ruhe vor dem Sturm?
Kurz vor Beginn der Steigung sind wir dann wieder vorne. “Nicht schneller werden!” rufe ich C. zu, da mir seine Un Eigenarten von zahlreichen Ausfahrten vertraut sind. Allerdings hört er nicht auf mich, der ich die Körner für den Berg aufsparen wollte, und so führen wir die Gruppe mit recht hohem Tempo in den Anstieg hinein. C.s Überlegung (falls es eine war) erweist sich jedoch als richtig – die anderen haben Respekt vor unserer Tempoarbeit, und zunächst wagt es niemand, uns zu überholen. Als die ersten dann vorbeifahren ist der Anstieg schon halb vorbei – jetzt gilt es allerdings: wir geben alles, mir wird fast schwarz vor Augen, immer mehr Leute überholen, doch nach endlos scheinender Zeit kommt der Kanal in Sicht. Geschafft! Relativ problemlos können wir hinten wieder anschliessen, und bis auf unseren Nebenmann in der Zweierreihe scheint der Berg auch keine Opfer gefordert zu haben.
Allerdings kommt oben auch bald die zweite Kontrollstelle – alle Anstrengungen waren also relativ unnötig, aber das kann man ja nie wissen. Nach sehr kurzem Aufenthalt geht es weiter. Die Strecke ist leicht abschüssig, und wir fahren vorne heraus. Da wir erstaunlicherweise auch die Spitzkehre hinunter nach Liepe und zum Schiffshebewerk schneller nehmen als der Rest, sind wir nach fast der Hälfte des Rennens plötzlich solo en tete – das hätte ich nie für möglich gehalten, und auch C. scheint übermütig zu werden. Er legt sich mächtig ins Zeug, um die anderen nicht herankommen zu lassen. Ich mahne zur Mässigung, da der noch fiesere Berg hinauf nach Hohenfinow schon am Horizont lauert – er hingegen will wieder auf Plan A (mit Vorsprung am Berg ankommen) zurückgreifen. Dazu ist es allerdings viel zu weit. In Niederfinow sind die anderen wieder dran, und mir schwant, dass wir für diesen Effort teuer bezahlen müssen. Schon geht es los: die ersten keulen in Pantani-Manier (Unterlenkerhaltung) den Berg hoch, andere gehen hinterher, und obwohl wir alles geben, fallen wir immer weiter zurück. Nach der Kurve wird es etwas flacher, dafür steht jetzt voll der Wind drauf. Wir holen einige, die sich scheinbar übernommen haben, wieder ein – und auch die Spitze kommt wieder in Sichtweite. Das Ding ist noch nicht gegessen!
Oben in Hohenfinow geht es scharf links auf die Vorfahrtstrasse. Ein nach rechts abbiegender Hobbyradler irritiert jedoch meinen Piloten, und nach dem Kommando “links!” bremst er etwas zu abrupt. Unser Hintermann, der wohl auch der Ohnmacht recht nahe ist, reagiert zu spät, donnert in uns rein und legt sich lang. Zwangspause! Und obwohl ihm nichts ernsthaftes passiert ist, wird sie noch dadurch verlängert, dass sich unser Schutzblech zusammengefaltet hat und uns am weiterfahren hindert. Hätte ich nur morgens aufs Abmontieren bestanden – so werde ich wohl sterben müssen, ohne jemals wieder in einer Spitzengruppe das Ziel erreicht zu haben.
Nach diesem Zwischenfall ist die Luft irgendwie raus. Das Grüppchen der am Berg Abgehängten harmoniert nicht richtig, der Gegenwind nervt, ich spüre die Anstrengungen des Tages in den Beinen und wünsche mich in mein Bett zurück. Zwar spielen wir unterwegs “Staubsauger” und sammeln ein paar zurückgefallene Fahrer wieder ein, aber nach der nächsten Kontrollstelle fahren wir mit D., der auf uns gewartet hat, alleine in gemässigtem Tempo weiter. Die Ruhe währt jedoch nicht lange. Von hinten prescht der D-Zug wieder heran, und erneut beginnt eine üble Tempobolzerei. Wir mischen an vorderster Front mit, und schon bald hat sich das Grüppchen wieder halbiert. Meinem Partner, der, seit er mit dem Rauchen aufgehört hat, noch nervöser geworden ist und es nie länger als eine halbe Minute im Windschatten aushält, schwinden aber allmählich die Kräfte, und er fängt an über Herzschmerzen zu jammern. Die letzte Pause kommt deshalb wie gerufen, obwohl ich selbst inzwischen schon wieder Bäume ausreissen könnte.
Eine “bergab mit Rückenwind”-Passage sorgt für den letzten Temporausch des Tages. Mehr als vier oder fünf Leute , die die 160-km-Runde absolviert haben, dürften nicht vor uns liegen, und so könnten wir manierlich fahrend zufrieden ins Ziel rollen. Unsere Mitstreiter scheinen jedoch noch ein “Finale” ausfechten zu wollen – auf langsame Fahrweise folgen abrupte Tempoverschärfungen. Wir haben darauf aber keine Lust mehr, und als wir ein hilfloses Opfer der Defekthexe am Strassenrand sehen leisten wir noch Pannenhilfe.
Holprige Strassen und typische Brandenburger Autofahrer trüben auf den letzten Kilometern noch etwas den “sonnigen” Gesamteindruck des Tages, aber im Ziel kam das obligatorische “war mal wieda jut jewesen” aus vollem Herzen. Mit An- und Abfahrt 190 km im 35er Schnitt kommen in die Akten – nicht schlecht für zwei Männer im Herbst ihrer Karriere.
Dieses war also die Fortgeschrittenen-Lektion im Tandemfahren. Ob es dieses Jahr noch Lektion 3 (“Wie man alles in Grund und Boden fährt”) geben wird? Mal schauen, die traditionell windige und regnerische Fläming-Rundfahrt steht noch im Kalender.
Teil 3
Saisonende und Abschluss der Tandem-Trilogie. Eigentlich war die Teilnahme an der Fläming-RTF geplant gewesen – einer Veranstaltung, bei der des heftigen Windes wegen traditionellerweise die eine Hälfte der Strecke doppelt so schnell zurückgelegt wird wie die andere, und bei der wir mit der Kraft der zwei Herzen das Feld auf der Windkante komplett zerlegt hätten. Aber die Herbstwinde blieben aus, und da mein Captain am Samstag ohnehin keine Zeit hatte wählten wir für unsere letzte Unternehmung die RTF “Jenseits der Havel” einen Tag später.
Die Streckenlänge war mit 112 km sehr überschaubar, und da wir ausserdem noch unseren arabischen Freund M. zur Teilnahme überreden konnten, der mit ca 150 Jahreskilometern nicht ganz optimal vorbereitet war, stand ein eher gemütlicher Saisonausklang auf dem Programm. Und so trafen wir uns ganz gemütlich (trotz Protesten meinerseits) am Bahnhof Jungfernheide – so gemütlich, dass wir erst einmal verspätet am Start erschienen und ein Peleton von angeblich 150 Leuten ohne uns auf die Reise gegangen war. Mit uns starteten noch drei Nachzügler, darunter ein Typ mit einem sehr hübschen, sehr blauen Trek-OCLV-Rahmen. Der Plan, mit einem kleinen harmonierenden Grüppchen doch noch Anschluss ans Feld zu finden scheiterte aber schon im Ansatz, da von unseren Mittrödlern trotz gedämpfter Fahrweise durch die Stadt schon nach ca. einem Kilometer nichts mehr zu sehen war – mal wieder ein typischer Fall von “Carbon-Poser”.
Locker plaudernd ging es also über Brieselang und den Havelkanal dahin. Hatten wir uns wenige Tage zuvor noch Gedanken über die optimale Bekleidung gemacht, da es morgens immer sehr frisch und mittags sommerlich warm gewesen war, so standen die Zeichen nun eindeutig auf Herbst: das gesamte Wochenende war neblig-trüb und mit Höchsttemperaturen von 10° nicht sehr gut beheizt. Ich hatte mich für Armlinge, Windweste und Mütze unterm Helm entschieden, und die 2/3-Hose liess die frisch rasierten Waden frösteln. Da war es mir ganz recht, dass der erste Kontrollpunkt schon nach 21 km kam – und dort heisser Tee ausgeschenkt wurde.
Dort sahen wir gerade noch die Nachhut des Feldes entschwinden. Einige waren allerdings schon jetzt so erschöpft und hungrig, dass sie eine längere Pause einlegen mussten. Wir rollten alsbald weiter, und liessen auch ein paar Lutscher, die sich angehängt hatten, zurück. M. fehlte auch irgendwann die Puste zum Quatschen und er hängte sich in unseren Windschatten. So erhöhten wir langsam ein wenig das Tempo und hatten bald darauf eine grössere Gruppe von ca 30 Leuten im Visier. Mir entfuhr ein entsetztes “Mein Gott, sind die langsam!”, und in Sekundenbruchteilen waren wir an ihnen vorbei. Mein Captain klärte mich allerdings darüber auf, dass wir mit etwa 40 Sachen unterwegs wären und die Gruppe auch etwa 33 fahren würde. Das Tempogefühl leidet doch ein wenig, wenn man die ganze Zeit über keinen Fahrtwind spürt.
Auch unser Begleiter auf dem Solo-Renner mahnte jetzt ein etwas ruhigeres Tempo an, und sein Wunsch war uns Befehl. Trotzdem hatten wir schon bald darauf die nächste grössere Gruppe vor uns – diesmal mindestens 40 Personen. Wir hängten uns hintendran und konnten so nebeneinander fahren, Neuigkeiten und Kabbeleien austauschen, ohne dass sich unser Kollege im Wind abstrampeln musste.
Irgendwann war uns das 30er-Getrödel dann aber doch zu langsam, und den Anstieg an einer Autobahn-Brücke nutzten wir zur Attacke. Da es nicht mehr weit bis zum zweiten Kontrollpunkt war, hatten wir eigentlich gedacht, dass unser Freund in der Gruppe bleibt – aber er blieb tapfer an uns dran. Umso besser – so konnten wir uns die Pause sparen und wurden nicht kalt. Und als Stoker hatte ich dennoch genügend Musse zur Betrachtung von Kranichen, Lamas, gigantischen LPG-Kartoffelfeldern und Champignon-Fabriken.
Irgendwann musste allerdings der Tee wieder raus, und nach der kurzen Pause hatten wir Zuwachs von hinten bekommen. Das ärgerte und spornte meinen Captain so an, dass er mächtig auf die Tube drückte. Ein Tempo zu finden, bei dem wir unseren Begleiter nicht verlieren, die anderen aber wieder abhängen können, erwies sich jedoch als unmöglich. Und so wurde der Schwanz hinter uns immer länger, da wir mehr und mehr kleinere Grüppchen auffuhren, von denen einige hinten andocken konnten. Das Röcheln von M. wurde dabei immer lauter, und auch mir wurde allmählich ziemlich warm. Zweimal mussten wir ihm schon gut zureden, damit er nicht ausschert und kapituliert, aber zu seinem Glück kam nach einem kleinen fiesen Anstieg endlich der letzte Kontrollpunkt.
Dort warteten tatsächlich einige, bis wir das Rennen wieder aufgenommen hatten, damit wir ihnen als Schrittmacher dienen konnten. Nicht alle hatten ihre Kräfte dabei richtig eingeschätzt, denn nach einem langgezogenen Anstieg bei Fahrland hatten wir statt eines Dutzend plötzlich nur noch drei Begleiter. (Mein Captain wunderte sich später im Ziel darüber, da er selbst die Kurbel kaum noch herumbekommen hätte. Meine Frage, warum er denn nicht geschaltet hätte, beantwortete er mit der Gegenfrage, warum ich ihn nicht daran erinnert hätte. Manche Menschen scheinen nicht einmal selbständig atmen zu können.)
Über die B2 ging es wieder nach Spandau hinein – der einzig unangenehme Teil der Strecke. Durchgeknallte Autorennfahrer gingen ihrem kranken Hobby nach (vermutlich alle vehemente Befürworter einer Helmpflicht für Radfahrer) und liessen uns um unser Leben fürchten, aber schliesslich kamen wir doch heil im Ziel an.
Schön war’s wieder. Aber vermutlich die letzte Tour mit der Kraft der zwei Herzen. Es sei denn – C. hat beim Abschied irgendwas gemurmelt, das sich wie “vielleicht doch ein Renntandem anschaffen” anhörte.