In der Nacht vor unserer Abreise wurde ich um 2:30 Uhr wach. Das war ausnahmsweise gut, denn um 3:40 Uhr ging es los zum Flughafen Hahn. Was man so Flughafen nennt… Vermutlich hat mich mein schlechtes Gewissen nicht wirklich tief und entspannt schlafen lassen. Irgendwie sah das Haus aufgrund meiner unzähligen Überstunden und der totalen Erschöpfung des Vortags nicht so aus, wie ich es gerne vor dem Urlaub verlassen hätte.
Irgendeine kleine, fiese Stimme beschwört dann immer die unerträgliche Situation herauf, dass ich nicht mehr zurückkäme – entführt von sardischen Terroristen-Hirten o.ä. – und meine Mutter dann all die Krümel auf dem Boden und den Staub hinter den Schränken vorfände. Bei Auflösung unseres Haushalts. Keine Ahnung, was das ist, das mich zu solchen Horrorphantasien treibt. Ich fürchte, es ist etwas Katholisches. Schließlich hat’s ja mit schlechtem Gewissen zu tun…
Nichtsdestotrotz starteten wir nach intensivem, aber schnellem Kaffeegenuss pünktlich durch. Bereits während der Autofahrt war ich müde. Am Flughafen wurde es nicht viel besser, obwohl der diesmal deutlich belebter als im April war. Wir fielen in die Sitze des Fliegers. Müdemüdemüde. Mir fiel die Lesebrille neben den Sitz. Toll. War ich doch aufgrund der Enge in einem Flugzeug, an dem Michael O’Leary zwar einen Haufen Geld verdiente, mit dem er aber nienieniemals selbst reisen würde, bis nach der Landung nicht in der Lage, die verdammte Brille aufzuheben. Und inzwischen bedeutet „unbebrillt“ bei mir praktisch „blind“ – zumindest was das Erkennen von Dingen angeht, die nicht mindestens den klassischen Nafri-Abstand von einer Armlänge von mir entfernt sind. Und der existierte in diesem Flieger nicht. Verdammt!
Schlafen war auch mal wieder nichts. Wie auch – auf einem aus Platzgründen senkrecht aufgestellten Campingstuhl?! Und nein! Kein Sandwich zum Preis einer Doppelhaushälfte! Und auch kein Parfum und / oder Los zu Gunsten wohltätiger Zwecke. Nein. Landung. Danke.
Tosender Applaus brandete bei der Landung auf Sardinien auf. Hö?! Nach einer Flugdauer von 100 Minuten? War wohl nur die allgemeine Erleichterung darüber, endlich rauszukommen. Oder eine Ermutigung ans Personal, es doch nochmal mit einem Betriebsrat zu versuchen. Man weiß es nicht.
Unmittelbar nach der Landung erklärte mir der Gatte seinen genialen Plan: Wir würden diesmal nicht zu zweit am Kofferband rumlungern. Nein! Ich würde allein am Kofferband rumlungern. Und er würde sich bereits in die Schlange vor dem Mietwagenschalter stellen. Im Prinzip ein ebenso effektiver wie genialer Plan, auf den wir schon vor Jahren hätten kommen können. Hätten…
Erst als ich mit zwei Rucksäcken (einer hinten, einer vorne), einer Laptoptasche und dem Täschchen mit des Gatten Atemregler (rechts und links über der Schulter) versuchte, zwei wartende Fluggäste abzudrängen, um den ersten der beiden Koffer vom Band zu zerren, war ich irgendwie nicht mehr ganz so begeistert davon. Das änderte sich auch mit dem zweiten Koffer nicht.
Immerhin stand der Gatte ganz vorne, als ich vollbepackt anrückte. Man händigte uns einen Fiat Panda aus. Dem Panda, den ich vor etwa 27 Jahren mal eine Weile gefahren bin, sah er nicht mehr wirklich ähnlich. Das waren Sitze. Richtige Sitze. Und der Motor gab auch ein richtiges Motorengeräusch von sich. Unfassbar. Fast wie ein richtiges Auto.
Wir nahmen die Küstenstraße nach Santa Teresa Gallura. Zumindest glaube ich das. Ich fiel dann im Auto endlich völlig platt in einem Tiefschlaf. Zwischendurch wurde ich kurz wach, versuchte meinen Beitrag zur Navigation zu leisten, und fiel ansatzlos wieder um. Wie der Gatte die Fahrt überlebt hat, ist mir absolut schleierhaft. Ich wäre vermutlich auch auf dem Fahrersitz eingeschlafen.
Als wir an unserer Unterkunft für die kommenden zwei Wochen (Ja! Es ist wahr! Wir ziehen in diesem Urlaub nicht ein einziges Mal um!) eintrafen, wurde uns ein Parkplatz an einer Stelle vor dem Haus zugewiesen, den ich zu Hause als perfekten Standort für meine Hollywoodschaukel genutzt hätte: Meerblick, rechts ein roter Oleander, links ein weißer Oleander. Herrlich. Das würde dem Panda gefallen.
Nach einigen Verwicklungen bei der Zahlung der Wohnung…
— Ich gebe es ungern zu, aber wir mussten zweimal zum Geldautomaten nach Rena Majore fahren, weil ich in meinem todmüden und verschwitzten Hirn (Können Hirne eigentlich schwitzen?!) beim ersten Versuch zu wenig abgehoben hatte, und das erst bei unserer Rückkehr feststellte —
… schleppten wir erstmal das Gepäck hinein und brachen zu einem kombinierten Tauchbasisbesuch / Stadtbummel / Einkauf nach Santa Teresa Gallura auf. Nachdem ein Termin bei der Tauchbasis für den Folgetag vereinbart worden war, liefen wir durch das Städtchen, das übrigens ausgesprochen hübsch ist, und aßen Eis. Göttliches Eis. Das Eis schmolz zwar in der unerträglichen Hitze des Nachmittags schneller als man „Fior di Latte“ sagen konnte, aber das war egal.
Irgendwo musste doch ein Brunnen sein, indem man die Finger entkleben konnte. Wir fanden einen, der allerdings von einer derart dämlichen Bauweise war, dass man beim Versuch, seine Hände zu befeuchten praktisch komplett drin lag, aber egal!
Die Fiat-Dichte in der Stadt bewegt sich übrigens auf einem ähnlichen Niveau wie auf dem Parkplatz des „Celpro“ in Mainz-Kastel. Sowas kannte ich bisher nur von dort.
Zum Einkauf ging es in einen zufällig entdeckten und gerade erst eröffneten „Leaderprice“, eine Kette, die wir vor Jahren in Frankreich wegen ihres vorzüglichen Rotweinsortiments kennen und lieben gelernt hatten. Wir deckten uns mit dem Lebensnotwendigsten ein: Wasser, Brot, Espresso, Vermentino, Bier, Wasser, Wasser, Wasser, Pasta (selbstredend Maloreddus und Fregola Sarda in verschiedenen Variationen), Gemüse und Wasser.
Unmittelbar nach unserer Rückkehr sank der Gatte aufs Bett und ward erst einmal nicht mehr gesehen. Aus einer ungesunden Mischung von Neugier, Vergnügungssucht und Durst heraus öffnete ich den Vermentino. Ich muss nicht erwähnen, dass sich in der Küche ein Korkenzieher befand, oder?! Das ist schließlich ein italienischer Haushalt. Der Vermentino und ich waren nach etwa einer halben Stunde SO eng – da passte kein Weinetikett dazwischen!
Immerhin spürte ich, wie sich langsam so etwas wie Entspannung einstellte. Egal wenn das am Alkohol lag. Das will ich an dieser Stelle gar nicht so genau wissen! Ich fühlte mich seit Wochen zum ersten Mal wieder halbwegs erholt. Schön! Ich wusste allerdings zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht, wie anstrengend der Abend werden würde.
Der Gatte hatte für uns das „Agriturismo Gallura da Pieruccio“ ausgesucht. Eine ausgezeichnete Wahl, die uns allerdings tatsächlich im Verlauf des Abends alles abverlangte. Und uns wie geprügelte Hunde mit unserem „Doggy Bag“ – man packte uns freundlicherweise den letzten Gang ein – angesichts unserer schmählichen Kapitulation zum Auto schleichen ließ. Das war ein – dessen ungeachtet – absolut köstlicher Abend. Nur leider hatten wir uns der Köstlichkeit dieses Abends als nicht ganz gewachsen erwiesen.
Es fing harmlos an: Auf dem Tisch stand ein Schälchen mit zwei Cocktailtomätchen und zwei Häppchen Pecorino. Mjam. Kaum saßen wir, wurden verschiedene Platten mit hausgemachten Antipasti aufgetragen: Salami (ääähhh… Salumi!), Schinken, Speck, Artischocken, Ricotta, Honig, drei Sorten Käse, ein Korb Brot.
Fehler: Wir aßen Brot. Aber wir hatten zu diesem Zeitpunkt auch Hunger. Das zu unserer Entschuldigung.
Es folgten Zucchiniküchlein und Ensaimadas mit Salsiccia-Füllung. Die Zucchinidinger schmeckten nach Döbbekoche! Ich war gerührt. Kurz gerührt, denn dann trafen bereits Fleischbällchen in einer Sauce aus Tomaten und karamellisierten Zwiebeln ein. Wir schwelgten. Allerdings wurde uns zu diesem Zeitpunkt klar, dass wir gerade noch von den jeweils ersten Tellern des Dreifachstapels vor uns aßen. Wir sahen uns an. Aber wir hatten noch Mut. Es folgten dünne Rindfleischscheiben in einer scharfen Tomatensauce mit Kapern. Der Vorspeisenteller wurde abgeräumt. Wenigstens das. Satt waren wir da schon.
Es folgte eine Zuppa Gallurese – Brot in Brühe, dazwischen Käse, darüber Tomatensauce mit Rindfeischstückchen. Da wir leicht in Panik gerieten, dass gleich der nächste Gang käme, begaben wir uns kurz an die frische Luft. Machten alle anderen auch. Das verhinderte zumindest kurzfristig, dass weiteres Essen aufgetragen wurde.
Kaum saßen wir wieder, nahte eine Schüssel mit hausgemachten Malloreddus in einer weiteren Tomatensauce, die allerdings wieder einen völlig anderen Charakter hatte als ihre Vorgängerinnen. Und jede passte perfekt zum Rest des Gangs – mal süß, mal scharf, mal fruchtig. Immer köstlich!
Bevor wir erneut aufstehen konnten, wurde eine Platte mit Ravioli aufgetragen. Wieder Tomatensauce, wieder anders. Und die Ravioli gefüllt mit Ricotta und Zitrone. Herrlich! An dieser Stelle meinte der Gatte, es reiche jetzt. Blöderweise waren wir erst bei Teller Nummer zwei angekommen. Ich schlug vor, dass der untere Teller vielleicht nur eine Art Platzteller sei… Nein? Nein!
Eine Fleischplatte näherte sich unserem Tisch – Lamm, Rind, Schweinebauch. Vom Grill. Es roch herrlich nach Knoblauch und Kräutern. Ich probierte jeweils ein winziges Stückchen, als sich eine Portion Bratkartoffeln und eine Wurst unserem Tisch näherten. Wir gaben auf. Endgültig. Und ließen alles einpacken. Viel zu schade, es zurückgehen zu lassen. Das gute Fleisch!
Die Gastgeberin fand uns witzig – verzweifelt wie wir waren. Und servierte uns Espresso, Orangenlikör und galluresische Dolci. Ein leicht gehässiges Lächeln umspielte ihre Lippen. Zumindest kam uns das in diesem Augenblick so vor. Mit Hilfe der Espressi und der Schnäpse schafften wir die Plätzchen wider Erwarten doch noch. DIE Blöße wollten wir uns dann doch nicht geben!
Dieser Abend erinnerte uns fatalerweise an zwei ganz ähnlich verlaufene Abende: einen in den Pyrenäen in der „Auberge de l’Arrioutou“, und einen im „To Sieradiko“ in Larnaka auf Zypern. Da hatte man uns auch unsere Grenzen aufgezeigt. Und das gründlich. Genauso wie Chef Gordon dereinst in Marsalforn im „Menqua Antika“.
Zwischen zwei Gängen überlegten wir kurz, uns als Bischof von Gozo und dessen Haushälterin zu erkennen zu geben, und das Küchenpersonal wegen Anstiftung zur Todsünde der Gula einem kleinen, aber feinen Exorzismus zu unterziehen, unterließen es dann aber doch. Da waren wir ohnehin bereits zu schwach, um noch katholische Italiener beeindrucken zu können.
Überflüssig zu erwähnen, wie gut wir in dieser ersten Nacht auf Sardinien schliefen.
Morgens startete der Gatte gleich zu seinen ersten beiden Tauchgängen durch, während ich mich intensiv dem Projekt „Entschleunigung“ widmete. Vorher gab es natürlich Kaffee. Und wie sich das für eine italienische Ferienwohnung gehört, kamen auch in dieser Hinsicht erst gar keine Probleme auf. Es gab zwei Espressomaschinchen für den Gasherd. Perfekt! Sie blubberten lustig vor sich hin – und ich musste nicht mit Sieben, Küchenrollen und ähnlichen Kaffeemaschinenersatzkonstruktionen hantieren. Das lief schon mal sehr gut!
Während des Frühstücks gesellte sich der sehr aufgeregte Hund unserer Vermieter zu uns. Als er merkte, dass nichts zu holen war, verschwand er wieder. Im Laufe des Vormittags tauchte er zwar noch mehrfach auf, wirkte aber schon weniger aufgeregt. Ich blieb stur. Einen bettelnden Hund permanent vor der Tür – das wäre mir zu anstrengend.
Mein Entschleunigungsprogramm bestand aus Spülen, einer Sensorreinigung an der Kamera und der Sichtung sardischer Rezepte im Netz. Ach! Und aus Lesen. Das Geburtstagsgeschenk von Max war im Koffer mitgereist – und ich liebe es. „Qualityland“ von Marc-Uwe Kling. Scharfsinnig, witzig, genial! Vorbehaltlose Empfehlung.
Am Nachmittag fuhren wir nochmals nach Santa Teresa Gallura, erledigten noch ein paar Einkäufe und gönnten uns noch ein Eis. Ich entschied mich diesmal für Menta Bianca und Myrte. Ein Traum. Diesmal waren wir schlauer und nahmen keine Waffeln, sondern Becher. So konnte man etwas langsamer essen – und etwas mehr genießen.
Anschließend machten wir uns auf zum Capo Testa, wo nicht nur alle legalen, sondern auch jeder denkbare illegale Parkplatz belegt war. Wir wendeten im ebenfalls komplett zugeparkten Wendehammer am Ende der Straße, fuhren zurück, marschierten zum Aussichtspunkt jenseits des Damms und warfen wenigstens von weitem einen Blick drauf. Wir kommen wieder, Capo Testa. Verlass dich drauf!
Das Abendessen wurde in der heimischen Küche hergestellt. Ich schnippelte die Fleischreste des Vorabends und bastelte eine Sauce mit Tomaten und Staudensellerie daraus. Eine scharfe Sauce. Und es gab industriell hergestellte Malloreddus dazu. Und ein „Ichnusa“ für den Herrn (es handelt sich um sardisches Bier – aber dazu kommen wir später noch…). Die Köchin hielt sich am Vermentino schadlos.
Der Abend ging sehr entspannt zu Ende. Marc-Uwe und ich amüsierten uns auf der Terrasse, bis es zu dunkel zum Lesen war.
Wie immer eine Gaudi, mit dir zu reisen. Und die Auberge in den Pyrenäen… verzauberter geht’s kaum!